Als Deutsche nach Brasilien auswanderten
23. Juli 2024Die Nachwehen der napoleonischen Kriege, Missernten und drückende Steuerlasten machen den Menschen Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland das Leben schwer. Da kommt ein verlockendes Angebot vom anderen Ende der Welt: 77 Hektar Land bekommt jede Familie, die bereit ist, sich in Brasilien anzusiedeln. Dazu Vieh, Saatgut und landwirtschaftliche Geräte, und eine finanzielle Hilfe in den ersten zwei Jahren.
Es ist mehr als, die Bauern, Handwerker und Tagelöhner sich zu Hause je zu erhoffen wagten. Schon bald folgen die ersten dem Ruf, es heißt Abschied nehmen von der alten Heimat.
"Leb wohl mein teures Teutschland
Es gibt kein Wiedersehn
Wir schaun zurück vom Sandstrand
Zum letzten Abschiedsnehm
Es wellen nun die Segel
Zerschnitten ist das Band
Die Flucht führt übers Meere
In das Brasilienland."
Die ehemalige portugiesische Kolonie braucht Arbeitskräfte
Im Januar 1824 läuft das Schiff Argus im Hafen von Rio de Janeiro ein, rund 280 Personen sind an Bord. Es ist das erste Schiff mit Deutschen "im Dienst des brasilianischen Kaiserreichs". Die Ankömmlinge lassen sich in den Staaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul nieder und gründen die erste deutsche Kolonie, São Leopoldo, benannt nach der österreichischen Gattin des Kaisers, Leopoldine. Es war nicht zuletzt sie, die sich für die Anwerbung der Deutschen nach Brasilien stark gemacht hatte.
Seit zwei Jahren ist das Land keine portugiesische Kolonie mehr. Kaiser Dom Pedro I. nimmt die Einwanderer nicht aus reiner Selbstlosigkeit auf. Sie sollen - wenn nötig - gegen die Feinde Brasiliens kämpfen, aber vor allem braucht er Siedler, die im Süden des Landes Ackerbau betreiben. Das Ende der Sklaverei ist absehbar, "und da stellte sich die Frage, wo man neue Arbeitskräfte herbekommt", sagt der Historiker Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin gegenüber der DW. "Man wusste, dass die Sklaverei nicht mehr dauerhaft aufrecht erhalten werden kann, dass es aufgrund der britischen Blockade des Sklavenhandels ja auch immer schwieriger wurde, Nachschub zu erhalten. Und da fiel der Blick unter anderem auf die deutschen Territorien. Man wusste, dort gibt es viele arme Leute, die auch den Druck haben auszuwandern."
Die Politik des "Aufweißens"
Die Elite Brasiliens verfolgt mit ihrer Einwanderungspolitik noch ein anderes Ziel: Sie will ihr Land "aufweißen". "Fortschritt wurde gleichgesetzt mit Europäisierung, sowohl der Sitten und Gebräuche, aber eben auch ganz konkret der Bevölkerung", sagt Rinke. "Man wollte Europäer. Und zwar nicht alle Europäer, sondern vor allem Mitteleuropäer, denn die galten als besonders tugendsam, fleißig, strebsam und gehorsam - auch das nicht unwichtig, wenn man sich neue Untertanen herbeiwünscht."
Im Laufe des nächsten Jahrhunderts werden rund 250.000 Deutsche über 10.000 Kilometer von zu Hause eine neue Heimat finden. "Hier erhält man ein Stück Land, dessen Größe in Deutschland der einer Grafschaft entspricht", schreibt ein nach Brasilien ausgewanderter Siedler 1827 begeistert an seine Familie.
Die Siedler brauchen Platz - für ihre Häuser, ihre Felder und ihr Vieh. Allerdings ist der Urwald, in den die Neuankömmlinge ihre Schneisen schlagen, nicht unbewohnt. Die indigenen Ureinwohner verteidigen ihr Territorium und liefern sich blutige Auseinandersetzungen mit den Deutschen.
Bald heuert die Regierung Söldnertruppen an, die die Indigenen erbarmungslos jagen. Im "Urwaldboten", einer Zeitung der 1850 gegründeten Ortschaft Blumenau, ist zu lesen: "Die Buger (Abfällige Bezeichnung für Indigene, die so viel bedeutet wie "Mistkerle" oder "Drecksschweine". Anm. d. Red.) stören die Kolonisation und den Verkehr zwischen Hochland und Küste. Diese Störung muss beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimentale Betrachtungen über die ungerechte Praxis der Bugerjagden, die den Grundsätzen der Moral widersprechen, sind hier ganz und gar nicht am Platze. … Die vagabundierenden Stämme müssen durch ein großes Aufgebot von Bugerjägern und Waldläufern aufgehoben und so mit einem Schlage unschädlich gemacht werden."
Abgeschottet in der Enklave
Die Ureinwohner haben keine Chance gegen ihre Jäger, zwei Drittel der indigenen Bevölkerung werden ausgerottet. Die deutschen Siedlungen hingegen prosperieren. Die Einwanderer halten die Bräuche aus der alten Heimat hoch und sprechen weiterhin Deutsch. Die Landessprache Portugiesisch beherrschen nur wenige, man bleibt unter sich. Das Brasilien vor dem eigenen Gartenzaun bleibt den Immigranten aus dem Deutschen Reich fremd, stattdessen pflegen sie engen Kontakt zur alten Heimat. Viele feiern alljährlich den Geburtstag des Kaisers und spenden im Ersten Weltkrieg große Summen für das Vaterland.
Diese Abschottung weckt zunehmend das Misstrauen der alteingesessenen, von Portugiesen abstammenden Bevölkerung. Immer eindringlicher wird vor der "deutschen Gefahr" gewarnt. Als in Deutschland die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch sind, begeistern sich nicht wenige deutschstämmige Einwanderer für Hitler. Brasilien hat die größte NS-Partei außerhalb Deutschlands, in den Schulen singen die Kinder Nazi-Hymnen.
Deutsch wird verboten
Schließlich greift Präsident Getúlio Vargas hart durch: Die NSDAP und die deutschsprachige Presse werden verboten, deutsche Vereine und Schulen werden geschlossen, und der Gebrauch der deutschen Sprache wird unter Strafe gestellt. "Das lag daran, dass Brasilien jeweils in beiden Weltkriegen Deutschland den Krieg erklärt hat, so dass dann auch eine Frage der inneren Sicherheit war", sagt Frederik Schulze vom Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. "Als dann auch brasilianische Schiffe von deutschen U-Booten versenkt wurden, gab es Ausschreitungen gegen deutsche Geschäfte von Brasilianern. Soll heißen, der Krieg hat sozusagen die ganze Stimmung noch mal angefacht."
1945 liegt Nazi-Deutschland am Boden, die deutsche Kultur ist in Misskredit geraten. Der Kontakt der Deutschbrasilianer zur Heimat ihrer Vorfahren bricht ab. Sie lernen Portugiesisch, und ihre Kinder fühlen sich wie selbstverständlich als Teil der brasilianischen Gesellschaft.
Deutsche Traditionen überleben
Nur noch selten hört man die deutsche Sprache in einem altertümlichen Dialekt, doch der Einfluss der Einwanderer in Südbrasilien ist überall sichtbar. Man sieht Fachwerkhäuser, bekommt Sauerkraut mit Schweinshaxe oder Apfelstrudel serviert und die Stadt Blumenau - 1850 mitten im Dschungel vom deutschen Apotheker Hermann Blumenau gegründet - ist berühmt für ihr Oktoberfest, das weltgrößte nach München.
So, wie vor 200 Jahre Deutsche nach Brasilien auswanderten, zieht es heute Brasilianer in die andere Richtung. Rund 160.000 sollen laut dem Außenministerium in Deutschland leben. Auch sie haben ihre Heimat verlassen, weil sie von einer besseren Zukunft träumen.