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GesellschaftDeutschland

Ein Mann mit den Erinnerungen einer Frau

Kim-Aileen Sterzel
30. März 2022

Ali ist Transgender: 2015 kommt er nach Deutschland. Die DW-Doku "Ich bin in Berlin geboren" begleitet ihn von 2016 bis 2020. Das Porträt erzählt von seinen körperlichen Veränderungen, Erinnerungen und Meilensteinen.

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Ali aus Syrien lacht, im Hintergrund Häuser in Berlin
Ali kommt aus Syrien und ist TransgenderBild: DW

Ich bin in Berlin geboren

Die Post ist adressiert an "Frau Hamidi" statt an "Herrn Hamidi", in der Sprachschule wird er mit "Oula" statt "Ali" angesprochen, da dieser Name auf seinem Ausweist steht. Für Ali bedeuten diese Zwischenfälle jedes Mal einen Schlag ins Gesicht. Der junge Mann ist Transgender: Er identifiziert sich als Mann und wurde in dem Körper einer Frau geboren. Ali kam im Sommer 2015 nach Berlin und ließ seine Heimat und Vergangenheit als "Oula" in Syrien zurück. Die DW-Doku "Ich bin in Berlin geboren" begleitet Ali von 2016 bis 2020 in seinem neuen Leben als Mann und zu dem Körper, in dem er sich wohlfühlt.  

"Trans"-Personen sind im falschen Körper geboren: Die körperlichen Merkmale bei der Geburt stimmen nicht mit der eigentlichen Geschlechteridentität überein. Transgender können geschlechtsangleichende Maßnahmen, wie Hormontherapien oder operative Eingriffe, vornehmen lassen, um ihre eigentliche Identität ausleben zu können. Dabei handelt es sich jedoch um einen langwierigen und schmerzhaften Prozess. Der internationale "Transgender Day Of Visibility" findet seit 2009 am 31. März statt. Der Tag soll für die Diskriminierung von Transgender-Personen sensibilisieren. 

Der Weg zur Namensänderung 

Alis erste Anlaufstelle 2015 in Deutschland ist Magdeburg. Sein größtes Problem: die Einsamkeit – das Gefühl, nicht er selbst sein zu können, sich mit niemandem wohl zu fühlen und sich immer verstecken zu müssen. Er kam nach Deutschland, ohne viel über das Land zu wissen. Durch seinen falschen Namen in seinen Dokumenten und seine Identität, hat Ali das Gefühl sich nicht in der Gesellschaft integrieren zu können. Auch die Anmeldung in der Sprachschule und die Suche nach einer Arbeit gestalten sich aus diesem Grund sehr schwierig – in der Verzweiflung hatte er es sogar mit Schwarzarbeit versucht, aber auch dabei sorgte seine Identität für Probleme. "Mein ganzes Leben spielt sich zwischen diesen beiden Identitäten ab: Oula und Ali. Ich kann das einfach nicht mehr", berichtet Ali in der DW-Doku: "Ich suche nach dem Moment, in dem mein Herz, mit meinem Körper und meinen Gefühlen übereinstimmen wird." Freunde hat Ali nicht, die Tage sind langweilig und eintönig. Ein Tapetenwechsel ist ein erster Lichtblick.

Ali sitzt am Ufer eines Flusses
Die erste Zeit in Deutschland verbrachte Ali in Magdeburg, bevor er nach Berlin zogBild: Abida/DW

Der Umzug nach Berlin markiert den Beginn der langen und schwierigen Prozedur, um offiziell und körperlich zu "Ali" zu werden. Der junge Mann fängt an, Hormone zu nehmen und schafft es nach einem sechsmonatigen Verfahren seinen Namen per Gerichtsbeschluss ändern zu lassen. Zum ersten Mal steht der richtige Name im Ausweis, den Ali nun selbstbewusst und stolz zeigen kann – wie z.B. auf seiner ersten Reise als Transgender nach Frankreich. Ali beginnt Deutsch zu lernen, knüpft erste Freundschaften und reift in Berlin heran – zu einem Menschen mit eigener Identität. "Ich bin Ali, mit all seinem Willen und seiner Kraft", sagt er stolz in die Kamera.

Zwangsverheiratet und verhaftet 

Alis Vergangenheit hat er in Syrien zurückgelassen: Bereits als Kind hatte er gemerkt, dass etwas anders war - in Syrien jedoch ein Tabuthema. Seine Familie hatte ihn in seiner Rolle als “Oula” zum traditionellen Leben als Frau und zur Heirat gezwungen. Ali wurde vergewaltigt. Der junge Mann engagiert sich während der Revolution gegen das Al-Assad-Regime 2011 und ermöglicht Menschen mit gefälschten Ausweisen die Flucht über die Grenze. Dafür wird Ali am 12. Oktober 2012 verhaftet.  

Ali als Frau in einem roten Kleid
Seine Rolle "Oula" ließ Ali in Syrien zurückBild: Abida/DW

Die Erinnerungen an die Haft kommen immer wieder hoch: blutverschmierte Wände, in Tüchern eingewickelte Leichen auf dem Boden, gedemütigte Frauen, die verprügelt werden. Im Gefängnis trifft Ali die Entscheidung, sich endlich zu seiner Identität als Mann zu bekennen. Unter der Bedingung Syrien zu verlassen, kommt er kurze Zeit später frei und gelangt im Sommer 2015 über die Türkei auf der Balkanroute nach Deutschland. "Oula, die Frau, starb hier im Gefängnis und wird nie mehr zurückkommen. Im tiefsten Inneren fühle ich, dass ich Ali bin", sagt Ali auf der Bühne des Theaterstückes "X-Adra" von Ramzy Choukair, bei dem er über die Gewalt während der Haft und seine persönliche Entscheidung spricht.

Mit den Erinnerungen an "Oula"  

Die Entfernung der weiblichen körperlichen Merkmale durch die geschlechtsangleichenden Operationen in Berlin helfen Ali, sich weiter von "Oula" zu entfernen. Wegen der OPs muss er viel Zeit im Krankenhaus verbringen. Ali braucht für die Prozeduren viel Geduld und viel Durchhaltevermögen: Sieben Monate vor dem letzten Eingriff, der sogenannten "Abschlussoperation", setzten die Ärzte Ali einen Silikonschlauch in einen Teil des Unterarms, hieraus soll sein männliches Geschlechtsteil entstehen. Die körperlichen Veränderungen sind die Vorboten der Zukunft, die sich Ali gewünscht hat: "Ich habe das Gefühl, dass ich mein Leben in Berlin begonnen habe, ich bin in Berlin geboren. Und alles, wovon ich immer geträumt habe, ist in Berlin passiert", erinnert er sich in der Doku. Sein neuer Alltag ist geregelt und sicher: ein fester Job, ein Haus und eine Lebensgefährtin.

Ali liegt in OP-Kleidung im Krankenhausbett
Ali in den letzten Minuten vor einem geschlechtsangleichenden EingriffBild: Abida/DW

Die DW-Doku stellt Alis Bezugspersonen und Partnerinnen in Berlin vor. Sie sind sich einig: Ali ist ein Mann mit den Erinnerungen einer Frau. In einer Beziehung sei das ein besonderer Vorteil, da er nicht die typischen Fehler begehe. Die Rückstände von "Oula" helfen Ali, seine Partnerinnen besser zu verstehen. Er ist sich sicher: Es war der richtige Weg für "Oula" und "Ali". "Hätte ich all diese Operationen nicht gemacht und wäre in Syrien geblieben, müsste ich heute mit Sicherheit um mein Leben kämpfen. Denn Oula hätte niemals überleben können", sagt Ali in "Ich bin in Berlin geboren": "Jetzt hat sie seit meiner Umwandlung so viele Dinge verpasst. Also habe ich beschlossen das wieder gut zu machen." Auf seiner Haut kann man diese tätowierten Zeichen der Versöhnung lesen: "Ali" umarmt "Oula" und reicht ihr die Hand - er trägt sie für immer unter seiner Haut.

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