Deutsch-französischer Politologe Alfred Grosser ist tot
8. Februar 2024Die besänftigende Sprache der Diplomatie war seine Sache nicht - und doch war Alfred Grosser ein großer Diplomat, und zwar immer dann, wenn es um die deutsch-französische Freundschaft ging Dabei redete er nie etwas schön. Immer ehrlich und gerade heraus zu sein, war Grossers Besonderheit. Als sich die halbe Welt nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo zum Solidaritätsmarsch in Paris einfand, sprach er von einer "Heuchlerparade". Es sei lächerlich, dass Politiker aus Ankara und Moskau an einer Demonstration für Pressefreiheit teilnähmen.
"Bitte nicht das Abendland überspannen", sagte Grosser an Pegida und die AfD gerichtet. In Bezug auf die selbsternannten "Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" (Pegida) polterte er in einer deutschen TV-Talkrunde: "Wenn jetzt immer vom christlich-jüdischen Abendland gesprochen wird, dann wird mir als Jude regelrecht schlecht." Und kritisierte aufs Schärfste die Partei und Bürgerbewegung "Alternative für Deutschland" (AfD). "Das Abendland, das Sie verteidigen, wollte Hitler auch schon."
Grossers Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland
Grosser wusste, wovon er sprach. Am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren, musste er als Achtjähriger mit seiner jüdischen Familie aus Deutschland fliehen. Sein Vater, der als deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte und für Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse ausgezeichnet worden war, hatte den Entschluss, sein Heimatland zu verlassen, kurze Zeit nach Hitlers Machtübernahme gefasst. Er und alle anderen jüdischen Veteranen waren aus dem Verband der Träger des Eisernen Kreuzes ausgeschlossen worden.
Dies berichtete Grosser 2014 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag. Anlass war eine Gedenkstunde an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Ausgerechnet in Frankreich - dem Land, gegen das sein Vater im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte - sei Paul Grosser als Weltkriegsveteran gewürdigt worden. Für seinen Sohn Alfred wurde Frankreich schon bald eine neue Heimat - und doch ließ ihn seine Herkunft bis zuletzt nicht los.
Umtriebiger Politologe, produktiver Autor
Über 30 Bücher hat der Politologe – lange Zeit unterrichtete er an der renommierten Hochschule für Politik "Sciences Po" in Paris - geschrieben. In so gut wie allen Publikationen versuchte er entweder den Franzosen zu erklären, wie die Deutschen ticken oder den Deutschen, was Frankreich bewegt. Ihm gelang es, Innen- und Außensicht zugleich zu liefern, mal schreibt er "Wie anders sind die Deutschen" (2002), dann wieder "Wie anders ist Frankreich" (2005).
In seiner historischen Bundestagsrede über den Ersten Weltkrieg versicherte er den Deutschen, heute sähen 82 Prozent der Franzosen in Deutschland den verlässlichsten Partner. Es ist Menschen wie Grosser zu verdanken, dass die deutsch-französische Freundschaft heute mehr als bloße Interessenspolitik ist. Als Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1963 den Elysee-Vertrag unterschrieben hatte, sei dies - so Grosser - noch "keine Liebesbeziehung" gewesen.
Disput um "L‘Allemagne"
Für sein Engagement wurde Grosser etliche Male ausgezeichnet - in Deutschland wie in Frankreich. Er war unter anderem Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt, des Großen Verdienstkreuzes in Deutschland wie auch des Großkreuzes der Ehrenlegion, (Légion d'honneur) - eine der höchsten Auszeichnungen des französischen Staates.
Dabei beschränkten sich sein Wissen und seine Meinungsfreude nicht allein auf das Feld der aktuellen Politik und Zeitgeschichte beider Länder. Auch deren Kultur fühlte sich Grosser verbunden und half gerne nach, wenn es mal wieder Missverständnisse gab.
Als 2013 - ausgerechnet im 50. Jahr des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags - ein Streit über die Ausstellung "De l'Allemagne" im Pariser Louvre entspann, war es Grosser, der mit seinem für ihn so typischen verschmitzten Lächeln wieder für Klarheit sorgte. Zwar sei die Ausstellung vom kunsthistorischen Niveau ziemlich enttäuschend, dass Deutschland aber - so wurde es in deutschen Zeitungen empfunden - als ein "von starken dunklen Kräften gebeuteltes Land, das mehr oder weniger geradlinig auf den Nationalsozialismus zusteuerte" gezeigt werde, sei dennoch völlig übertrieben.
Kritiker Israels – und der Israelkritiker
Grosser war ein Querdenker. Das zeigte sich auch in Bezug auf Israel. Als der deutsche Nobelpreisträger Günter Grass 2012 scharf für sein Israel-Gedicht angegriffen und gar als Antisemit beschimpft wurde, ergriff Grosser als einer der wenigen Partei für Grass. Natürlich sei das, was Grass geschrieben habe, ästhetisch betrachtet, kein Gedicht, aber die inhaltliche Aussage treffe zu, sagte Grosser der Süddeutschen Zeitung. Die israelische Regierung provoziere und riskiere einen Krieg mit dem Iran. Man müsse Israel kritisieren können, ohne gleich als Antisemit abgestempelt zu werden - ein Schicksal, das sogar auch ihm zuteil geworden sei.
Grosser war ein Kenner voll emotionaler Nähe von Deutschland, Frankreich oder auch Israel und behielt zugleich stets de kritischen Blick des Außenstehenden. Genau das machte ihn zu einem großen Intellektuellen.