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"Ein durchaus pragmatischer Ansatz"

Kersten Knipp10. April 2012

Womöglich wird Chairat al-Schater, Präsidentschaftskandidat der Muslimbrüder, zu den Wahlen in Ägypten nicht zugelassen. Er saß unter Mubarak in Haft. Ägyptenexperte Stephan Roll hält seine Politik aber für pragmatisch.

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Stephan Roll (Foto: Stiftung Wissenschaft und Politik )
Bild: SWP

Deutsche Welle: Herr Roll, Chairat al-Schater wurde vergangene Woche von den Muslimbrüdern als Kandidat für die ägyptischen Präsidentschaftswahlen nominiert. Inzwischen ist aber fraglich, ob er wegen seiner Zeit als politischer Häftling während der Regierungszeit Hosni Mubaraks überhaupt kandidieren darf. Wie sehen Sie diese Einschränkung?

Stephan Roll: Al-Schater war unter Mubarak einer von vielen verurteilten Muslimbrüdern. Jetzt käme es darauf an, zu überprüfen, ob das Urteil gegen ihn aus heutiger Sicht rechtskräftig war. Für alle Fälle haben die Muslimbrüder noch einen Ersatzkandidaten nominiert, Mohammed Morsi, den Vorsitzenden der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei.

Al-Schater soll bis in die späten 1960er Jahre sozialistischen, wenn nicht kommunistischen Vorstellungen angehangen haben. Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien soll er dann den Islam für sich entdeckt haben. Wie sehen Sie einen solchen Wandel?

Chairat al-Schater gehört in der Bruderschaft sicherlich auch zu dem Flügel, die nicht die alte Garde vertreten. Diese war zu großen Teilen unpolitisch ausgerichtet, konzentrierte sich dafür umso mehr auf religiöse Fragen. Al-Schater gehört dagegen eher zu jenem Flügel, der in der Vergangenheit sehr politisch agierte. Die Muslimbrüder betonen sehr das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, insofern ist das meines Erachtens gar nicht so abwegig.

Kann man also auch von einem gewissen Pragmatismus dieses Flügels sprechen?

Chairat al-Schater umringt von seinen Anhängern (Foto: picture-alliance/dpa)
Mann der Massen: Chairat al-Schater lässt sich von seinen Anhängern feiernBild: picture-alliance/dpa

Ja, durchaus. Seit den 1970er,und 1980er Jahren haben die Muslimbrüder einen Kurs des graduellen Wandels verfolgt. Sie sind keine Revolutionäre, sie fordern keinen radikalen Wandel. Vielmehr haben sie sich zu eher moderaten Politikern gewandelt. Deswegen ist dieser pragmatische Ansatz, das System im System zu verändern, durchaus folgerichtig. Dass junge Aktivisten das kritisieren und den Muslimbrüdern mangelnde Transparenz vorwerfen und ihnen zudem vorhalten, sie würden mit den herrschenden Politikern politische Geschäfte machen, ist allerdings auch verständlich. Dennoch, die Muslimbrüder wollten das System aus dem System heraus verändern.

Sind die säkularen Aktivisten der Revolution nun enttäuscht?

Ägypten ist ein sehr konservatives Land, ein islamisches Land, und da spiegeln die Muslimbrüder durchaus die Wünsche der Mehrheit der Bevölkerung wider. Das darf man nicht übersehen. Ich denke aber, man sollte auch nicht zu ängstlich den Muslimbrüdern gegenüber sein. Sie werden nicht über Nacht versuchen, eine starke Islamisierung des Landes einzuleiten. Vor allem werden sie das auch nicht gegen den Willen der Bevölkerung tun. Außerdem werden sie immer darauf achten, wie Ägypten international dasteht. Den Muslimbrüdern liegt daran, dass Ägypten international nicht ins Abseits gerät und wichtige Kooperationen mit der westlichen Welt dadurch erschwert würden.

Muslimbrüder bei einer Kundgebung in Kairo - April 2008 (Foto: AP)
"Ägypten ist ein konservatives Land": Muslimbrüder bei einer Kundgebung in KairoBild: AP

Wie beurteilen Sie die Entscheidung der Muslimbrüder, nun doch einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen?

Ich teile nicht die Analyse einiger Kollegen - auch einiger ägyptischer Kollegen -, die sagen, das sei jetzt die absolute Konfrontation zwischen Muslimbrüdern und Militär. Das sehe ich nicht so. Mein Eindruck ist vielmehr, dass es tatsächlich in Absprache zu dieser Kandidatur Chairat al-Schaters gekommen ist. Schlicht und einfach deswegen, weil sowohl das Militär als auch die Muslimbrüder davon überrascht waren, dass sich auch einige sehr populäre Personen um dieses Präsidentenamt bewerben, die offensichtlich erhebliche Zustimmung in der Bevölkerung finden.

Blick über die Wüste auf ein Conatinerschiff auf dem Suezkanal, 17.04.2006 (Foto: Picture Alliance / dpa)
Der pragmatische Al-Schater könnte die ägyptische Wirtschaft fördernBild: dpa/picture-alliance

Sowohl für die Muslimbrüder als auch das Militär wäre es sehr, sehr schwierig, wenn es einen populären, selbstbewussten und vielleicht auch völlig eigenständigen Präsidenten gäbe, wie beispielsweise Hazim Abu Ismail von den Salafisten. Daran dürfte beiden Gruppen nicht gelegen sein. Darum kam für sie nun der Moment, um gegenzusteuen und sicherzustellen, dass alle Seiten mit dem künftigen Präsidenten leben können.

Chairat al-Schater wäre demnach ein Kompromisskandidat?

Ich denke, das Problem war, dass man sich mit dem Militär nicht auf einen sozusagen "neutralen" Kandidaten hat einigen können. Vor allem auf keinen, der dann auch soviel Popularität gehabt hätte, dass er tatsächlich auch gewählt worden wäre. Mein Verdacht oder mein Eindruck war, dass beide Seiten zwar einen solchen Kandidaten gesucht haben. Aber dann festgestellt haben, dass die in Frage kommenden Personen alle nicht sonderlich populär waren - selbst wenn sich Militärs und die Muslimbrüder hinter sie gestellt hätten.

Ägypten: Ein Jahr ohne Mubarak

Denn in den vergangenen Wochen wurde immer deutlicher, dass die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung einen gewissermaßen islamischen Präsidenten haben will. Zugleich legt sie aber auch hohen Wert darauf, dass dieser nicht dem alten Regime angehört.

Stephan Roll arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik in der Forschungsgruppe Naher - Mittlerer Ostenund Afrika und ist seit 2010 Lehrbeauftragter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.