"Ich hoffe, dass Afghanistans Frauen stark bleiben"
28. November 2024Es ist Herbst geworden in Deutschland. Die Blätter der Bäume sind braun gefärbt, viele sind bereits abgefallen. Eine Brise bewegt die Äste hin und her, dazu sorgt leichter Nieselregen für eine melancholische, aber auch friedliche Stimmung im Schlosspark der kleinen Stadt Hanau im Bundesland Hessen. Hin und wieder huscht ein Lächeln über die Gesichter von Nazima und Nazira Khairzad, während die beiden Sportlerinnen aus Afghanistan durch den Park schlendern.
Nazima war in ihrer Heimat eine erfolgreiche Skirennläuferin und Bergsportlerin, ihre Schwester Nazira stand im Tor der Frauen-Fußball-Nationalmannschaft. Seit neun Monaten leben sie gemeinsam in Deutschland. Aus Afghanistan mussten sie 2021, nach der erneuten Machtübernahme der Taliban, fliehen. Nazira landete nach ihrer Flucht zunächst in Italien, ihre zwei Jahre ältere Schwester Nazima kam schließlich über Pakistan nach Deutschland.
"Ich bin sehr stolz auf meine Schwester, sie ist mein Vorbild und meine beste Freundin", sagt Nazira der DW. "Es war eine schwere Zeit. Wir haben uns lange nicht sehen können, doch jetzt sind wir glücklich, wieder vereint zu sein."
Sport trotz traditioneller und kultureller Regeln
Seit August 2021 hat sich die Situation der Mädchen und Frauen in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Sie werden systematisch unterdrückt, dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen, nicht studieren, nicht arbeiten und auch keinen Sport treiben.
"Ich kann immer noch nicht glauben, was passiert ist", sagt Nazima im DW-Interview. "Bereits vor den Taliban war die Situation für Frauen nicht gut. Viele waren Hausfrauen und mussten das tun, was ihre Eltern ihnen sagten. Sie hatten kein Leben, sie waren nur lebendig und durften nichts selbst entscheiden."
Nazima wollte so nicht leben. Bereits als junges Mädchen widersetzt sie sich den traditionellen und kulturellen Regeln in ihrer Provinz Bamiyan im Hochland Afghanistans. "Ich wollte immer anders sein", sagt die heute 22-Jährige. "Ich habe es immer geliebt, Regeln zu brechen. Ich wollte mein Leben so leben, wie ich wollte und vor allem Sport machen."
Sportliche Betätigung ist schon vor der Machtübernahme der Taliban keine selbstverständliche Freizeitbeschäftigung für Frauen und Mädchen in Afghanistan. Dennoch beginnen die Schwester im Jahr 2014 - erst gegen deren Willen, dann aber mit dem Einverständnis ihrer Eltern - mit dem Fußballspielen. Zum Training seien sie zunächst heimlich gegangen, berichtet Nazira. Erst ein Jahr später kam es heraus.
Nazima: "Viele Frauen bekommen Depressionen"
Zwei Jahre danach entdecken die Schwestern auch den Skisport für sich. Sie klettern die schneebedeckten Berge in Bamiyan hinauf - einen Lift gibt es zu der Zeit nicht - und fahren wieder herunter. Sie sind ehrgeizig und trainieren, wann immer es möglich ist. Wenige Jahre später schreibt Nazima Geschichte und gewinnt bei einem Wettkampf im Nachbarland Pakistan die erste internationale Medaille im Alpinski für Afghanistan.
Im Frühjahr 2021 ist sie gemeinsam mit Tamara Jahan die erste afghanische Frau, die den Shah Fuladi besteigt. Der Berg ist mit knapp über 5000 Metern der höchste Gipfel Zentralafghanistans. Nazima wird zum Vorbild für tausende Mädchen und setzt sich in der Folge immer mehr für die Rechte der Frauen in ihrem Land ein. Immer mehr folgen ihrem Beispiel, spielen Fußball oder werden Teil der Ski-Nationalmannschaft.
Auch ihre Schwester Nazira macht im Sport Karriere. Als Torhüterin schafft sie es ins afghanische Nationalteam. "Fußball ist etwas Besonderes für mich. Es hat mich stark gemacht", sagt die 20-Jährige. Sie sei sehr stolz auf sich, erzählt Nazira. "Aber ich bin auch stolz auf die anderen Mädchen, die mit mir Fußball gespielt haben, "denn es war nie leicht, als Frau in Afghanistan Fußball zu spielen."
Seit 2021 ist das jedoch vorbei, der Traum von einer besseren und freieren Welt platzt. Nach dem chaotischen Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan und der erneuten Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist Sport für Frauen verboten. Viele von Nazimas Teamkolleginnen haben seitdem das Land verlassen können, einige mussten jedoch in Afghanistan bleiben.
"Es ist sehr schwer für mich, wenn ich an meine Teammitglieder denke", sagt die 22-Jährige. "Viele werden verheiratet oder bekommen Depressionen." Mit einigen stehen die Sportlerin und auch ihre Schwester immer noch in regelmäßigem Kontakt.
Verzweifelte Situation für Frauen in Afghanistan
"Sie können nicht vor die Tür gehen ohne Hijab oder Burka", berichtet Nazira. "Einige meiner Freundinnen haben sich im vergangenen Jahr umgebracht, weil sie Depressionen hatten." Naziras Stimme gerät ins Stocken, denn wirklich helfen kann sie ihren Freundinnen nicht. Dennoch versuchen beide Schwestern, den Menschen und speziell den Frauen und Mädchen in Afghanistan Mut zuzusprechen.
"Ich versuche ihnen positive Energie zu geben und meine Stimme zu erheben, damit sie nicht vergessen werden", sagt Nazima. Wenn die Skifahrerin heute alte Bilder aus der Vergangenheit ansieht, wird sie nachdenklich und traurig. Damals hätten die Frauen zumindest ein bisschen Freiheit gehabt, so die Sportlerin. "Im Vergleich zur heutigen Situation war es immer noch okay."
Nach ihrem Spaziergang wärmen sich die Schwestern in einem kleinen Café am Rande der Hanauer Innenstadt auf. Sie sind froh, jetzt in Deutschland zu sein und keine Angst mehr haben zu müssen. Lange Zeit war ihr Alltag in Deutschland von der Sorge um die Angehörigen in der Heimat erfüllt. Doch mittlerweile hat es auch die Familie der Schwestern geschafft, Afghanistan zu verlassen. Monatelang hatten sie in der Hauptstadt Kabul ausgeharrt und auf den richtigen Moment für ihre Flucht gewartet.
"Als meine Eltern in Afghanistan waren, war ihr Leben in Gefahr, weil meine Schwester und ich Sport getrieben haben", erinnert sich Nazira. "Sie waren eine der wenigen Familien in Afghanistan, die ihren Töchtern erlaubt haben, zu studieren und Sport zu treiben", ergänzt ihre Schwester.
Nazima: "Frauen stärker als Männer"
Nun, wo die ganze Familie in Deutschland wieder vereint ist, versuchen die Sportlerinnen auch ihre Karrieren fortzusetzen. Zudem geben sie Interviews und verpassen keine Chance auf die Situation der Frauen in Afghanistan aufmerksam zu machen.
Sport, sagen Nazima und Nazira, gebe ihnen Hoffnung und Stärke und halte den Glauben an eine bessere Zukunft in ihrer Heimat am Leben. "Die Situation in Afghanistan ist sehr schwierig. Aber ich hoffe, dass die Frauen stark bleiben," sagt Nazima. "Ich bin sicher, dass sich die Situation in Zukunft wieder ändern wird, besonders für die Frauen. Irgendwann werden sie die gleichen Rechte haben und leben können, wie sie wollen." Denn Frauen, da ist sich die 22-Jährige sicher, seien ohnehin stärker als Männer.