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PolitikUkraine

Adoptionen in der Ukraine: Ein Zuhause für Kinder im Krieg

25. September 2024

In der Ukraine nimmt die Zahl der Adoptionen von Kindern seit Anfang des Krieges zu. Adoptiveltern haben dabei ganz unterschiedliche Motive. Die DW hat mit Familien gesprochen.

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Kinder aus einem Waisenhaus in Odessa in Mukatschewo
Im Waisenhaus: Evakuierte Kinder aus Odessa im ukrainischen MukatschewoBild: picture alliance/dpa/Ukrinform

"Mir war klar, dass ich Einsamkeit nicht ertragen kann und dass es irgendwo ein kleines Kind gibt, das auch allein ist. Das eine Mutter, ein Zuhause und alles braucht, was eine Familie bieten kann. Ich kann Liebe geben und will mich um jemanden kümmern", sagt Olha aus Sumy im Nordosten der Ukraine.

Gleich zu Beginn des umfassenden Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 verlor sie ihren 27-jährigen Sohn Maksym, als er die Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer verteidigte. "Ich weiß, was es heißt, allein zu sein", so Olha. "Hätte ich eine große Familie, dann hätte ich Unterstützung."

Nach der Beerdigung ihres Sohnes beschloss sie, ein Mädchen zu adoptieren, da ein Junge sie an Maksym hätte erinnern können. Sie reichte beim zuständigen Amt alle nötigen Unterlagen ein und erhielt die Erlaubnis, ein Mädchen an Kindesstatt anzunehmen. Danach absolvierte sie eine staatliche Schulung und wartet nun schon seit einem Jahr auf den ersehnten Familienzuwachs. "In Heimen gibt es viele Kinder, die jedoch nicht alle adoptiert werden können. Es ist nicht einfach, wenn man sich schon auf ein Kind eingestellt hat, sich nach Büchern und Puppen umschaut und warten muss. Aber man weiß ja noch nicht, wie das Mädchen sein wird."

Wer ein Kind adoptieren will, braucht Geduld

Im ersten Jahr der russischen Invasion sei die Zahl der Adoptionen in der Ukraine zunächst zurückgegangen, sagt Wasyl Luzyk, Leiter des Nationalen Sozialdienstes. 2022 adoptierten die Ukrainer 752 Kinder. Doch schon bald stieg die Zahl wieder an - auf 925 Adoptionen im Jahr 2023 und fast 600 im ersten Halbjahr 2024.

Zu den adoptierten Kindern gehört der dreijährige Bohdan. Seit zwei Wochen lebt er in Lwiw im Westen der Ukraine bei Tatjana und ihrem Mann, die zwei leibliche Kinder haben - einen 14-jährigen Sohn und eine 12-jährige Tochter. "Wir wollten immer eine große Familie sein", sagt Tatjana: "Ich denke, dass alle Adoptionsgeschichten so beginnen."

Der dreijährige Bohdan mit Tatjana auf einem Spielplatz in Lwiw
Gut angekommen: Der dreijährige Bohdan lebt seit zwei Wochen bei Tatianas Familie in LwiwBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Das Adoptionsverfahren für Bohdan dauerte neun Monate. Wie Olha konnte auch Tatjana kaum erwarten, dass die Ämter für sie ein Kind finden. Parallel begann sie selbst zu suchen, in einer landesweiten Datenbank über Waisenkinder und auch über soziale Netzwerke, wo sie auf eine Nachricht über Bohdan stieß, der aus einem Waisenhaus in der Region Charkiw in die Region Iwano-Frankiwsk evakuiert worden war. Schon beim ersten Treffen habe der Junge Kontakt zu ihr aufgenommen, erinnert sie sich. "Er ist verspielt, offen und fröhlich." Die Familie besuchte Bohdan über mehrere Monate und schließlich bekam das Ehepaar vom Gericht die Erlaubnis zur Adoption.

Der Krieg erschwert die Vermittlung

Als die russische Invasion begann, verbot die Ukraine die Adoption ukrainischer Kinder durch Ausländer. Selbst für Ukrainer gestaltete sich das Adoptionsverfahren aufgrund kriegsbedingter Unterbrechungen der Arbeit von Gerichten und Ämtern schwierig. Im Sommer 2022 hätten sich dann diese Probleme gelegt, sagt Daria Kasjanowa von der NGO SOS-Kinderstädtchen der Ukraine, die sich um Waisenkinder kümmert.

Wegen des Krieges wurden nicht nur ganze Waisenhäuser in sicherere Regionen der Ukraine verlegt, sondern es wurden auch einzelne Kinder ins Ausland gebracht, wo sie nicht von Ukrainern adoptiert werden konnten. Doch das änderte sich im Juni dieses Jahres.

"Adoptiveltern haben sich Erleichterungen gewünscht", sagt Kasjanowa. Ihre Organisation unterstützt finanziell Familien, die ein ins Ausland evakuiertes Kind aus einem Waisenhaus adoptieren möchten. Dazu müssen die Familien das Kind online kennenlernen und es dann im Ausland besuchen. "Fast 60 Familien haben sich bereits bei uns gemeldet, für die wir Reisen in verschiedene Länder bezahlt haben, darunter nach Polen, Deutschland, in die Türkei, nach Österreich und in die Schweiz", berichtet Kasjanowa.

Waisenkinder aus Odessa stehen vor einem Bus in Berlin im März 2022
Evakuierung ins Ausland: Ankunft von Waisenkindern aus Odessa in Berlin im März 2022Bild: Christophe Gateau/dpa/picture alliance

Doch nicht alle Länder begrüßen eine Rückkehr von Kindern in ihre Heimat und bremsen sogar manchmal das Verfahren. "Selbst wenn Länder bereit sind, Kinder zurückzugeben, greifen internationale Menschenrechtsorganisationen ein und stellen die Frage, ob diese Kinder in Sicherheit leben werden."

Viele Waisen sind im Ausland

Zu denjenigen, die auf die Erlaubnis warten, ein ukrainisches Waisenkind aus dem Ausland aufzunehmen, gehört Viktoria. Sie ist mit ihrem Mann und ihrer vierjährigen Tochter von Saporischschja in die Westukraine gezogen. Noch vor der umfassenden russischen Invasion habe das Paar ein Kind adoptieren wollen und habe 2023 alle notwendigen Unterlagen eingereicht. Seit Anfang 2024 gelten sie als mögliche Adoptiveltern.

In der Datenbank zu Waisenkindern stieß Viktoria auf ein fünfjähriges Mädchen, das aus Odessa nach Litauen evakuiert worden war. Sie stammt aus schwierigen Familienverhältnissen und ihren Eltern war das Sorgerecht entzogen worden. Es stellte sich heraus, dass sie eine zehnjährige Schwester hat, die noch früher in ein Heim kam und nach Polen evakuiert wurde. Wenn Kinder in einer neuen Familie untergebracht werden, dürfen sie nicht getrennt werden.

Nach einem ersten Onlinetreffen besuchte Viktoria die Mädchen in Polen und Litauen. "Die ältere wünscht sich sehr eine Familie, weil sie weiß, was das bedeutet. Sie kam in ein Heim, als sie schon größer war, während die jüngere noch sehr klein war. Sie wusste nicht einmal, dass sie eine ältere Schwester hat", erzählt Viktoria.

Um die Mädchen in die Ukraine zurückzubringen und dort adoptieren zu können, wurde Viktoria zunächst als Betreuerin eingesetzt. Ihr zufolge müssen nun die zuständigen ukrainische Behörden die Rückkehr der Kinder mit Hilfe der Konsulate organisieren. "Je länger dieser Krieg dauert, desto größer werden die Mädchen und desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie in eine Familie kommen", fürchtet Viktoria.

"Die Kinder sollten in ukrainischen Familien untergebracht werden", unterstreicht Natalja Ibrahimowa vom Kiewer Regionalzentrum für soziale Dienste, das Schulungen für Adoptiveltern anbietet. "Die Eltern werden selbst entscheiden, wie sie ihr Kind im Krieg schützen können, doch das Kind wird wissen, dass es fürsorgliche Eltern und keine Erzieher mehr hat."

Kinder annehmen als Ausweg aus der Armee

Die Adoption von Waisenkindern, die häufig unter Behinderungen, psychischen Traumata und Entwicklungsstörungen leiden, sei ein äußerst verantwortungsvoller Schritt, betont die Leiterin des Kiewer Regionalzentrums für soziale Dienste. Sie sei mit Fällen konfrontiert worden, in denen Eltern ein adoptiertes Kind zurückgebracht hätten, weil sie überfordert gewesen seien.

Ibrahimowa zufolge könnten solche Fälle nach Kriegsende auch aus anderen Gründen zunehmen. Laut ihren Beobachtungen würden einige Männer Adoptionen dazu missbrauchen, die Zahl ihrer Kinder auf drei zu erhöhen, damit als kinderreich zu gelten und so der Mobilmachung zu entgehen oder die Armee verlassen zu können. "Von 100 Anwärtern wollen nur 40 Prozent wirklich Kinder haben", erklärt sie.

Tatiana und Bohdan im August 2024 auf einem Spielplatz
Glücklich über die neue Familie: Tatiana und Bohdan im August 2024Bild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Tatjana, die mit ihrem Mann den dreijährigen Bohdan adoptiert hat, wurde mit einem solchen Verdacht konfrontiert. Der Richter habe Beweise dafür verlangt, dass die Familie, die bereits zwei Kinder hat, den Jungen nicht nur deswegen adoptieren wolle, damit der Mann den Militärdienst verlassen könne. Er dient seit Beginn der russischen Invasion in der ukrainischen Armee.

"Ich sagte, dass mein Mann 2015 seinen Wehrdienst bereits absolviert und sich im Februar 2022 freiwillig gemeldet hat. Als gesunde Frau hätte ich ein drittes Kind zur Welt bringen können, um meinen Mann aus der Armee herauszuholen", sagt Tatjana. Sie finde einen solchen Verdacht unangenehm, könne sich aber vorstellen, dass er manchmal begründet sei.

Um Bohdan im Heim kennenzulernen, nahm sich ihr Mann Urlaub. Schon damals, so Tatjana, habe sich der Junge an ihn gebunden und ihn Papa genannt. Jetzt, wo sich Bohdan an sein neues Zuhause gewöhne, bemühe ihr Mann sich um die Entlassung aus dem Militärdienst. Schließlich, so Tatjana, wolle er bei seiner Familie sein - und dazu habe er ein Recht.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk