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Abziehbilder

30. November 2009

Es beginnt damit, dass Einer eine besondere Redewendung wählt, um einen Sachverhalt zu vermitteln...

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Burkhard Spinnen. Foto privat
Burkhard SpinnenBild: privat

Er sagt zum Beispiel nicht: "Die Partei ist von weniger Bürgern gewählt worden als zuletzt", sondern er sagt: "Die Partei hat ein schlechtes Ergebnis eingefahren." "Einfahren" verwendet man gemeinhin, wenn von der Ernte des Bauern die Rede ist. Die wird ja eingefahren, indem man sie in den Hof und möglichst auch unter ein Dach bringt, damit sie nicht verkommt. Wenn nun vom Einfahren eines Wahlergebnisses gesprochen wird, so öffnet diese Metapher den Blick auf einen Vergleich: Die Zahl der Wählerstimmen ist quasi die Ernte, mit der eine Partei für ihre politische Arbeit belohnt – oder aber mit der sie dafür bestraft wird.
So weit, so gut. Das Bild ist gar nicht so schlecht. Es vergleicht einen uralten, stark naturverbundenen Vorgang mit einem ziemlich modernen und auch eher abstrakten. In Sprache ist so etwas möglich, ja es ist eine der wesentlichen Leistungen der Sprache, Dinge und Sachverhalte rasch miteinander ins Benehmen setzen und dabei erstaunliche Beziehungen stiften zu können.

Der Sündenfall

Doch dann folgt leider der Sündenfall. Denn ein anderer hörte die Redwendung und verwendet sie auch. Ein Dritter folgt dem Zweiten undsoweiter undsoweiter – bis schließlich jeder, aber auch jeder, der von einer Wahl berichtet, unter dem Zwang steht, vom Einfahren eines Ergebnisses zu sprechen. Tausendfach wird es wiederholt, bis die die Leute glauben müssen, "einfahren" sei ein Fachbegriff aus der Wahlforschung, um den man als gebildeter Mensch nicht herumkomme. Die Leistung der Metapher geht dabei natürlich verloren, von ihrem Witz ganz zu schweigen.

Metaphernkarrieren

Saisonarbeiter stechen am bei Beelitz Spargel auf einem Feld. Foto: Michael Hanschke dpa/lbn
Spargel ernten...und einfahrenBild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Genau so aber vollziehen sich die Karrieren von Metaphern und Redwendungen im Zeitalter der Massenkommunikation. Kaum einer hat Zeit und Muße dafür, sich selbst – zusammen mit der Sprache – etwas zur Sache Passendes auszudenken. Stattdessen greift man nach dem Sprachmaterial, das gerade in aller Munde zu sein scheint. Statt Maßarbeit gibt es Mode, Trend und Konvention. Sie kennen das. Was tut eine Steuererhöhung? Jawohl, sie "spült Geld in die Kassen", vielleicht wie ein Bach die Goldnuggets in das Sieb des Schürfers spült. Was tut eine Kommune, wenn sie sich von Immobilien trennt? Richtig, sie "verkauft ihr Tafelsilber", so als sei ein demokratisches Gemeinwesen ein verarmter Adliger, der sich von seinen letzten Preziosen trennt.
Solche Bilder mögen einmal eine gewisse Aussagekraft gehabt haben. Doch die war an ihre Frische gebunden, daran, dass sie überraschen und zum Nachdenken anregen konnten. Als Stereotype aber leisten sie nichts mehr. Aus den Bildern sind Abziehbilder geworden, die gedankenlos immer wieder aufgeklebt werden. Und zwar auf unsere Ohren – und damit auch auf unsere Augen.

Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Gabriela Schaaf