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PolitikPolen

Statt neues Abtreibungsrecht nur Richtlinien in Polen

Monika Margraf (aus Warschau)
15. August 2024

Nach mehr als einem halben Jahr an der Macht ist Donald Tusk nicht in der Lage, ein Versprechen zu erfüllen: die Änderung des Abtreibungsrechts. Darum greift er nach Notlösungen, um die aufgebrachten Frauen zu beruhigen.

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Frauen protestieren in Warschau gegen das noch nicht reformierte Abtreibungsrecht: Mehrere Frauen tragen Plakate mit einem Text in polnischer Aufschrift "Mein Körper ist kein Sarg". Eine Frau mit einem auf die Wange gemalten roten Blitz hält ein schwarzes Schild hoch
"Mein Körper ist kein Sarg" - Polnische Frauen demonstrieren im Juli 2024 gegen das immer noch nicht reformierte AbtreibungsrechtBild: Adrianna Borowicz/DW

"Ich erinnere mich, wie 2016 nur 50 Menschen zu meinen Protesten zur Verteidigung der Frauenrechte kamen", erzählt Anna Sikora aus Sieradz in Zentralpolen. "Nach vier Jahren beteiligten sich fast 2000 Menschen an den Protesten. Die meisten von ihnen haben an den letzten Parlamentswahlen teilgenommen, und ich habe sie auch dazu aufgerufen."

Die Mutter von zwei Kindern ist eine lokale Anführerin von Frauenprotesten, die während der Regierung der katholisch-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, PiS, in den Jahren 2016-2023 ganz Polen erfassten und Frauen mobilisierten. Es waren Frauen, die auf Änderungen im Abtreibungsgesetz hofften und den Sturz der PiS im Herbst 2023 ermöglichten. "Und sie, insbesondere junge Frauen, haben heute das Recht, enttäuscht zu sein", bemerkt die linke Aktivistin Anna Sikora.

Abtreibung in Polen während der PiS-Regierung

Seit den 1990er Jahren gilt in Polen eines der restriktivsten Abtreibungsrechte in Europa, und unter der PiS-Regierung verschärfte sich die Situation noch: Abtreibungen aufgrund einer schweren Fehlbildung des Fötus wurden verboten, und eine legale Abtreibung ist nur noch möglich, wenn das Leben oder die Gesundheit der Frau gefährdet sind oder wenn die Schwangerschaft die Folge einer Straftat ist. 

Protest gegen das restriktive Abtreibungsgesetz in Polen: Demonstranten halten Schilder und Transparente hoch. Auf den schwarzumrahmten Schildern stehen die Namen von Frauen, die gestorben sind. Auf dem Transparent die englischen Worte "Stop Killing Us".
Demonstration in Warschau nach dem Tod einer Schwangeren im Juni 2023, der die lebensrettende Abtreibung verweigert worden warBild: Kacper Pempel/REUTERS

Die Politik der PiS, repressive Verfahren der durch sie kontrollierten Staatsanwaltschaft und Todesfälle von Frauen in Krankenhäusern wegen fehlender Hilfe lösten neue Proteste und Sorgen der Frauen um ihre eigene Sicherheit während der Schwangerschaft aus. Anna Sikora, die kürzlich ihr zweites Kind zur Welt brachte, erinnert sich an den Fall von Izabela S. aus Pszczyna. Die 30-jährige Mutter eines einjährigen Kindes war im Jahr 2021 im Krankenhaus ihrer Heimatstadt in Südpolen an einer Blutvergiftung gestorben. Die Ärzte hatten ihr den Schwangerschaftsabbruch verweigert, obwohl die in der 22. Woche Schwangere mit den Anzeichen einer Fehlgeburt in die Klinik gekommen war. "Ich bin schon weit über dreißig und hatte Angst, dass sich das Szenario von Iza aus Pszczyna bei mir wiederholen könnte", sagt Sikora.

2024: Ein Versuch der Veränderung

Abtreibung war eines der Themen des Wahlkampfs 2023, und der Spitzenkandidat Donald Tusk, Chef der liberalen Bürgerkoalition (KO), versprach polnischen Frauen die Möglichkeit einer legalen Abtreibung bis zur 12. Woche. Es war klar, dass dies ein riskantes Versprechen war. Nicht nur wegen des Widerstands des PiS-nahen Präsidenten Andrzej Duda. Tusks zukünftiger Koalitionspartner, das Wahlbündnis Dritter Weg, insbesondere dessen katholisch-konservativer Teil, die Bauernpartei (PSL), distanzierte sich schon im Wahlkampf von Tusks Versprechen.

Aktivistinnen der Gruppe Frauenstreik (Strajk Kobiet) halten Schilder und dunkelgrüne Halstücher hoch und sprechen in zahlreiche vor ihnen aufgestellte Mikrofone während einer Pressekonferenz vor dem Plenum des Sejm
Aktivistinnen der Gruppe Frauenstreik (Strajk Kobiet) geben am 11.04.2024 eine Pressekonferenz vor dem Plenum des SejmBild: Attila Husejnow/SOPA Images via ZUMA Press/picture alliance

Nach der Wahl und monatelangen Auseinandersetzungen in der neuen Koalition wurde der konservativste von vier Entwürfen zur endgültigen Abstimmung im Parlament eingebracht. Er sah die Abschaffung der Strafen für Hilfe bei Schwangerschaftsabbruch vor. Mitte Juli lehnte das Parlament die Gesetzesänderung jedoch ab: Obwohl die Mehrheit der Regierungskoalition dafür stimmte (KO, die Linke und Polen 2025), waren die rechte Opposition (PiS und Konfederacja) sowie fast die gesamte PSL dagegen. Es fehlten vier Stimmen.

Richtlinien für Staatsanwaltschaften

Ministerpräsident Tusk wiederholte bereits vor dieser Abstimmung, dass man die Sicherheit polnischer Frauen auch unter der derzeitigen Rechtslage verbessern  könne. Man solle den Missbrauch von Gewissensklauseln in Krankenhäusern und die unbefugte Verfolgung von Abtreibungen durch Staatsanwälte stoppen.

Porträtaufnahme eines Mannes mit Brille (Adam Bodnar)
Der polnische Justizminister und Generalstaatsanwalt Adam BodnarBild: Pawe Supernak/PAP/picture alliance

Bereits im Frühjahr beauftragte Tusk die Gesundheitsministerin Izabela Leszczyna (KO) und den Justizminister Adam Bodnar (parteilos), der in Polen gleichzeitig auch Generalstaatsanwalt ist, ihre Zuständigkeitsbereiche diesbezüglich zu überprüfen. Unmittelbar nach dem Fiasko der Abstimmung im Parlament kündigte die Generalstaatsanwaltschaft an, Richtlinien für Staatsanwaltschaften zu Abtreibungsermittlungen auszuarbeiten. Sie wurden am 9.08.2024 veröffentlicht und in Kraft gesetzt.

Die Frau ist keine Tatverdächtige

Die neuen Richtlinien erinnern Ermittler daran, dass Gerüchte nicht als Beweismittel in Verfahren verwendet werden können. Außerdem könne eine Frau nicht beschuldigt werden, ihre eigene Schwangerschaft abzubrechen. In den meisten Gerichtsfällen geht es um die strafbare Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch. "Obwohl der Schwangerschaftsabbruch (...) im Widerspruch zur polnischen Rechtsordnung steht, muss der Gesetzgeber dieses Problem nicht allein mit dem Strafrecht lösen", heißt es in dem von Bodnar unterzeichneten Dokument.

Die Richtlinien wurden nach der Analyse von 590 Akten zu Abtreibungsverfahren entwickelt. Die Ergebnisse der Analyse hätten einige Unregelmäßigkeiten gezeigt, so die Sprecherin des Generalstaatsanwalts, Anna Adamiak, gegenüber der DW.

Ein Pflaster für eine Schusswunde

Die Rechtsexperten sehen derzeit wenig Hoffnung auf echte Veränderungen aufgrund der Richtlinien. "Es wird sich dadurch nichts ändern: Es wird weder die Zahl der Fälle verringern, noch deren Repressivität mildern", sagt der Rechtsanwalt Jerzy Podgorski, ein Jurist mit Erfahrung in Prozessen zur Abtreibungshilfe. Das Dokument enthalte zwar positive Aspekte, es würden jedoch viele Fragen nicht behandelt, meint er. 

Proteste gegen das restriktive Abtreibungsrecht in Polen im November 2022 in Warschau: Eine Demonstrantin hält ein Foto der verstorbenen Izabela S. hoch, andere tragen brennende Kerzen in den Händen.
Demonstranten in Polen erinnern im November 2021 an die schwangere Izabela S., die an einer Blutvergiftung gestorben warBild: WOJTEK RADWANSKI/AFP

So handele es sich bei den meisten Schwangerschaftsabbrüchen in Polen heute um pharmakologische Abtreibungen, die von den Frauen zu Hause durchgeführt würden. Die dafür notwendige Abtreibungspille besorgten sich die Betroffenen über das Internet. "In einer solchen Situation gibt es niemanden, der der Frau beim Schwangerschaftsabbruch geholfen hat", so der Anwalt. Der Schwangerschaftsabbruch selbst sei keine Straftat im Sinne des Gesetzes. Dies hätte in den Leitlinien klar zum Ausdruck gebracht werden sollen.

"Es gab eine Chance, etwas zu verbessern, aber sie wurde nicht genutzt", resümiert Podgorski. Auch die Aktivistin Anna Sikora hat dazu eine klare Meinung: "Ich bin von der Haltung der Bauernpartei enttäuscht, die gemeinsam mit der Opposition die Reform blockiert hat. Und diese Richtlinien von Minister Bodnar sind ein Pflaster für eine Schusswunde. Sollen wir dafür auf den Knien danken? Oh nein."

Monika Margraf DW-Autorin, Korrespondentin und Reporterin in Polen