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Die ausgebrannten Volksvertreter

Wolfgang Dick30. November 2012

Im Eiltempo wurde im Bundestag über weitere Hilfen für Griechenland verhandelt. Die Abgeordneten hatten kaum Zeit, sich mit den Fakten auseinander zu setzen. Ihr Arbeitspensum ist kaum mehr zu bewältigen.

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Ein Abgeordneter legt den Kopf für eine kleine Pause auf den Tisch (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Der Blick in den Kalender von Abgeordneten ist beängstigend: Termine reihen sich im Viertelstundentakt aneinander. In diesen Tagen ist kaum an Schlaf zu denken. Fachausschüsse sind zu besuchen. Die persönliche Anwesenheit bei einer Abstimmung im Plenum ist Pflicht. Auf dem Schreibtisch warten mehrere Hundert Seiten eines Gutachtens und wollen gelesen werden. Ein gutes Dutzend E-Mails mit Fragen und Bitten von Bürgern will noch beantwortet werden. Die Euro-Krise bestimmt alles.

"Mein Arbeitstag umfasst in der Regel zwischen 12 und 16 Stunden", erzählt Marco Bülow, der seit zehn Jahren Abgeordneter der SPD ist. Immer schneller würden immer mehr Gesetze verabschiedet und politische Vorhaben vorbereitet. Oft bleibe kaum Zeit, sich mit den Hintergründen zu Gesetzen ausreichend zu beschäftigen, beklagt Bülow. Tatsächlich weist die offizielle Bilanz des Deutschen Bundestags für die letzte Wahlperiode im Schnitt rund tausend Gesetzesinitiativen aus. Dazu waren vierzehntausend Drucksachen zu bewältigen.

Material von zehn Meter LängeMarco Bülow wird dazu sehr deutlich: "Wer sagt, er würde das alles bewältigen können, der lügt." Bülow verweist allein auf die Zahl der Anträge, die vor einer Bundestagssitzung ausgelegt sind. Das Material fülle einen Tisch von zehn Meter Länge. "Wenn ich alles lesen würde, was an uns herangetragen wird, wäre ich mit nichts anderem mehr beschäftigt." Auch viele Kollegen würden sich überlastet fühlen, berichtet Bülow. "Nicht wenige werden unter dem Druck sogar krank."

Portrait Marco Bülow, SPD-Abgeordneter. (Quelle: http://www.marco-buelow.de/medien-service/fotos.html)
12 bis 16-Stunden-Tage: SPD- Abgeordneter Marco BülowBild: Maurice Weiss

In seinem Buch "Wir Abnicker" beschreibt Marco Bülow offen, was viele Abgeordnete selten zugeben. Ein System, das es unmöglich macht, das zeitliche Tempo und den Umfang von Gesetzesvorhaben überhaupt noch zu bewältigen, provoziert zum Teil undemokratische Prozesse und sogar Fehlentscheidungen. Besonders augenfällig sei dies bei den hastig durchgeführten Abstimmungen zu den Griechenland-Hilfen.  

Freier Eintritt für Lobbyisten

Traditionell werden Gesetze in Fachausschüssen des Bundestags vorbereitet. In diese Ausschüsse entsenden alle im Bundestag vertretenen Parteien Abgeordnete, die sich auf ein Sachgebiet spezialisiert haben. Doch häufig reicht auch die Zeit der Fachpolitiker nicht, um sich ein umfassendes Bild zu einem bestimmten Problem zu machen. Fachleute von außen werden dann angehört. Darunter befinden sich in den letzten Jahren immer mehr Experten, die direkt von Wirtschafts- oder sonstigen Interessensverbänden bezahlt werden. Die so genannten Lobbyisten vertreten in der Regel nicht den Willen aller Bürger, sondern vielmehr die Absichten ihrer Auftraggeber. Je weniger Zeit den Abgeordneten für die Überprüfung der Aussagen von Lobbyisten bleibt, umso mehr seien die Politiker den  Argumenten professioneller Interessensvertreter ausgeliefert, kritisiert Marco Bülow.

Gähnend verfolgt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) neben Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) im Deutschen Bundestag in Berlin die Aussprache nach Merkels Regierungserklärung (Foto: dpa)
Müde? Wer Politiker ist, leidet unter permanentem SchlafmangelBild: picture-alliance/dpa

Die Organisation "abgeordnetenwatch.de" beobachtet die Arbeit von Parlamentariern genau. Die Erkenntnisse dieser Institution bestätigen die Erfahrungen von Marco Bülow. Es klingt bedenklich, was der Sprecher von "abgeordnetenwatch.de", Gregor Hackmann, kritisiert: "Selbst in den Fachausschüssen gibt es nur wenige Personen, die sich wirklich in die Tiefe der Dinge einarbeiten können." Zu den wirklich informierten Personen gehörten meist nur die jeweiligen Berichterstatter der Fraktionen und die Ausschussvorsitzenden, die die Agenda bestimmten. "Alle anderen nicken dann die Vorschläge im Prinzip nur noch ab. Der Rest des Bundestags hat keinen richtigen Überblick mehr." Im Fall der Hilfen für Griechenland werde sehr viel von Finanzberatern der EU in Brüssel bestimmt - "nicht immer durchschaubar", so Hackmack. 

"Pairing" bringt ArbeitsentlastungWeil natürlich nicht alle über jedes Detail Bescheid wissen können, konzentrieren sich die Entscheidungsprozesse auf immer weniger Abgeordnete. Die übrigen Kollegen können sich dann parallel wieder um andere drängende Probleme kümmern. Zu dieser Arbeitsentlastung trägt auch ein Verfahren bei, das sich "Pairing" nennt. Das in der Öffentlichkeit kaum bekannte Verfahren erlaubt Beschlüsse durch zum Beispiel nur 25 Abgeordnete statt der Beteiligung aller 620 Mitglieder im Bundestag. Bedingung für die Beschlussfähigkeit ist lediglich, dass unter den 25 Entscheidern alle Parteien im gleichen Verhältnis repräsentiert werden, wie sie auch im Bundestag vertreten sind.

Gregor Hackmack, Pressesprecher der Organisation "abgeordnetenwatch,de" mit Sitz in Hamburg. (Quelle: http://www.goetzpeter.de//presse.htm)
Gregor Hackmack: "Der Rest hat keinen Überblick mehr"Bild: abgeordnetenwatch.de

Das geht selbstverständlich nur so lange gut, wie sich alle Parteien an diese Verabredung halten. Stimmt das Parteienverhältnis unter den wenigen nicht, kommen Gesetze entweder nicht zustande, oder es rutschen plötzlich Gesetze durch, die so eigentlich nicht hätten verabschiedet werden sollen. Zuletzt geschah das mit dem "Meldegesetz", das es den Städten erlauben würde, Daten ihrer Bürger an Wirtschaftsunternehmen weiter zu geben. Eine peinliche Panne, die für viel Ärger sorgte, als sie schließlich auffiel und kassiert wurde.

Kein Ende der Hetze in SichtOhne Arbeitsteilung sei das Pensum aber kaum zu bewältigen, bestätigt auch der langjährige CDU-Abgeordnete Peter Götz. Er ist seit über 20 Jahren Mitglied im Bundestag und sieht, wie die aktuellen Entwicklungen die Abgeordneten immer mehr zu Getriebenen machen. Ein Grund dafür sei auch die gestiegene Erwartungshaltung in der Bevölkerung. Im Zeitalter verstärkter Internetnutzung häufen sich die E-Mails von Bürgern an ihre Vertreter. Oft würden dann im harschen Ton eilige Forderungen geäußert. "Am liebsten möchten die Bürger ein Problem in der nächsten Stunde oder am nächsten Tag gelöst haben."

Portrait Peter Götz (Quelle: http://www.goetzpeter.de//presse.htm)
Peter Götz: "Wir werden immer mehr zu Getriebenen"Bild: privat

Wenn man dann tatsächlich schnell helfen möchte, könne man kaum vermeiden, dass andere wichtige Dinge auch mal liegen bleiben, gibt Peter Götz ehrlich zu. Sein Abgeordnetenkollege Marco Bülow hat sich inzwischen dazu entschlossen, öfter einmal "Nein" zu sagen und Anfragen und Terminwünsche noch strenger auf eine vermeintliche Notwendigkeit zu prüfen. Die Chancen, das Tempo generell wieder herauszunehmen, um mehr Zeit für bessere Entscheidungen zu haben, beurteilen beide Abgeordnete als eher schlecht. Dafür seien die Ereignisse in Europa und in einer globalisierten Welt zu drängend.