25 Jahre "Topographie des Terrors"
4. Juli 2012Die Sonne geht langsam unter. Eine Frau und ein Mann sitzen auf Stühlen, direkt über dem freigelegten Kellerfundament, in dem einst das Essen für SS-Offiziere gekocht wurde. "Es sind einfach zu viele Juden, wissen Sie. Elf Millionen in Europa, davon allein drei Millionen in der Ukraine", liest sie vor. "Die können wir doch nicht alle erschießen", erwidert der Mann in seinem Manuskript blätternd.
Dieses schockierende Zitat ist eine Passage aus dem Roman "Die Wohlgesinnten" des Autors Jonathan Littell. Darin wird die Geschichte des Nationalsozialismus aus der Sicht eines Täters erzählt. Die Schauspieler des Maxim Gorki Theaters in Berlin lesen Auszüge vor. Gleichzeitig wird aus Briefen und Tagebüchern von Opfern des Nazi-Regimes zitiert. Der Schauplatz der Lesung ist die Gedenkstätte "Topographie des Terrors".
Im Zentrum des Grauens
Der Ort ist nüchtern: die weite Fläche mit dunklem Schotter wirkt beklemmend öde. Auf dem Gelände mitten in Berlin hatte von 1934 bis 1945 die Gestapo ihr Hauptquartier, ebenso die SS-Führung, der Sicherheitsdienst und das Reichssicherheitshauptamt. "Es war kein Zufall, dass das Nazi-Regime genau diesen zentralen Ort wählte und nicht eine Kaserne am Stadtrand", erklärt Andreas Nachama, Direktor der Stiftung "Topographie des Terrors". "Das Grauen sollte vor aller Augen statt finden." Dadurch hoffte man den Widerstand zu brechen, Kritiker einzuschüchtern.
Heute liegt die Gedenkstätte genau zwischen den beiden zentralen Orten, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern: zwischen dem Holocaust-Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und dem Jüdischen Museum. Die "Topographie des Terrors" will vor allem Antworten geben auf die Fragen: Wie war es möglich, eine Demokratie innerhalb kürzester Zeit in einen totalitären Staat zu verwandeln? Wie haben die Nazis das geplant und wie konnten sie ihre politischen Gegner so schnell ausschalten?
Der Terror der Schreibtischtäter
Die Ausstellung gibt Einblicke in die Strukturen des Terrorapparats. Sie zeigt, wie etwa Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder Adolf Eichmann von ihren Schreibtischen aus den Holocaust planten und verwalteten. Hier wurde über das Schicksal von sechs Millionen ermordeten europäischen Juden, Sinti und Roma und der Kriegsgefangenen entschieden - über ihre Deportation, über Leben und Tod.
Wo heute auf dem Gelände ein quadratischer Umriss aus silbernem Metall um Schottersteine gezogen ist, befanden sich einst die Zellen des Gestapo-Hausgefängnisses. 15.000 politische Gefangene gingen durch die Flure zum Verhör oder zur Folter.
So wie Edith Walz, die als junge Frau für die sozialistische Arbeiterjugend Flugblätter gegen die Nazis verteilte und verhaftet wurde. Auch aus ihren Erinnerungen wird gelesen. "Sie führten mich vorbei an zerschlagenen Gesichtern. Und dann sagte der Gestapo-Mann zu mir, Sie sind ja noch jung. Aber wenn sie nicht einsichtig sind, sehen sie auch bald so aus."
Schweigen über die Vergangenheit
Lange haben die Deutschen und die Stadt Berlin diesen Ort aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Alles, was nicht ohnehin schon durch Bomben zerstört war, wurde nach Kriegsende abgerissen. Lange war das Gelände eine Brache, direkt hinter der Mauer auf West-Berliner Seite. Ein Autodrom entstand hier, auf dem die Berliner sich bei Geländefahrten amüsierten. 1987 begann eine Bürgerinitiative, die Fundamente freizulegen und eine provisorische Freiluftausstellung mit Stelltafeln zu errichten.
Erst 2010 entstand das neue Dokumentationszentrum. Die Eröffnung wurde aufgrund ungeklärter Zuständigkeiten mehrfach verschoben. Ein spektakulärer Bauentwurf des Schweizer Architekten Peter Zumthor scheiterte 2004 nach langem Hin und Her. Technische Probleme und fehlende Finanzierung waren die Gründe.
Die Biografie der Täter
Heute ist die "Topographie des Terrors" ein Publikumsmagnet. Rund 800.000 Menschen besuchen jährlich die Gedenkstätte, darunter viele Touristen und vor allem junge Menschen. Sie interessieren sich besonders für die Strukturen des Nazi-Regimes und für die Biografie der Täter. Viele von ihnen sind überrascht, wenn sie erfahren, wie jung der Großteil der Täter war. "Das Bild, das man durch die Nazi-Prozesse von diesen Gewaltverbrechern hat, ist in der Regel das von alten Herren. Die waren aber damals ziemlich jung", sagt Andreas Nachama.
Sie waren jung, optimistisch und sich dessen, was sie taten, sehr bewusst. Auf einem der unzähligen Schwarzweiß-Bilder sind fröhlich scherzende SS-Helferinnen zu sehen, im Nazi-Jargon "SS-Maiden" genannt. Gemeinsam mit ihren männlichen Begleitern in Uniform und nebst Schifferklavier amüsieren sie sich auf einem Betriebsausflug - Ablenkung von ihrem Dienst im Konzentrationslager Auschwitz. Das heitere Foto entstand vermutlich im Juli 1944 und schockiert heute den Betrachter, der um die Gräueltaten weiß, die die Fotografierten anderen Menschen antaten.
Aus der Geschichte lernen
Dabei weist die Ausstellung keineswegs nur in die Vergangenheit. "Es zeigt uns heute, was in einem Land passiert, in dem polizeiliches Handeln nicht durch unabhängige Instanzen kontrolliert wird", erklärt Direktor Andreas Nachama. "Dann kann sich der Besucher fragen: Wie ist das denn heute bei mir?" Die Proteste in der arabischen Welt haben jüngst gezeigt, dass diese Frage aktueller denn je ist.
Länder, die selbst unter Staatsterror gelitten haben wie Argentinien, Chile oder Südafrika, holen sich bei der Gedenkstätte Rat, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Eine japanische Besucherin erzählt, wie wichtig dieser Ort für sie ist. "In Japan wird nicht an die Geschichte erinnert. Sie wird verschwiegen", sagt sie.
Das Publikum, das zur Lesung gekommen ist, zögert mit dem Applaus. Darf man klatschen, wenn aus einem amtlichen Erlass der Nazis gelesen wird? Es gibt darauf keine Antwort. Und so mischt sich an diesem Abend ein nachdenkliches Schweigen unter den zögerlichen Beifall.