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18 Jahre nach Tschernobyl

26. April 2004

- Das größte Problem sind Überschwemmungen, weil 90 Prozent der Radionuklide sich über das Wasser verbreiten

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Kiew, 24.4.2004, UKRAJINA MOLODA, ukrain.

Manche Leute werfen nach einem Besuch in der Tschernobyl-Zone ihre Schuhe weg, weil, wie sie sagen, es danach gefährlich sei, sie zu tragen. Gefährlich seien die Nuklide, die man nicht entfernen könne. Empfohlen wird, wenn man dieses traurig bekannte Gebiet besucht, den Erdboden nicht zu betreten, sondern nur Beton oder Asphalt. Offiziellen Angaben zufolge laufen aber auf jenem Erdboden täglich 383 Menschen herum, so viele leben nämlich in den 13 Dörfern der Einsiedler, wie man sie nennt. Es sind vor allem alte Menschen, die vor vielen Jahren in ihre Häuser zurückgekehrt waren, trotz aller Verbote und Warnungen. Jährlich gibt der Staat für deren Unterhalt eine halbe Million Hrywnja aus – Straßen werden ausgebessert, die Stromversorgung in Stand gehalten, Renten ausbezahlt und wöchentlich Lebensmittel geliefert. Geholfen wird auch bei Beerdigungen. In Tschernobyl sagt man, dass dies alles sei, womit man den alten Menschen helfen könne, die die letzte Entscheidung ihres Lebens getroffen hätten: auf ihrem eigenen Grund und Boden zu sterben. Diese Menschen leben dort wie vor der Tragödie: sie fangen Fisch an "sauberen Stellen", wie sie selbst sagen, sie gehen in die leere Kirche und pflegen die verlassenen Friedhöfe.

Es ist unmöglich, mit den geringen Renten, die die Tschernobyl-Einsiedler erhalten, zu überleben. Deswegen versuchen sie, neben der Lebensmittelversorgung aus eigener Landwirtschaft, mit illegalen Methoden zusätzliches Geld zu verdienen. In der Tschernobyl-Zone ist viel Technik und Metall zurückgeblieben und manch einer ist bereit, sein Leben zu riskieren. Die Rechtschutzorgane stellten fest, dass es viele Menschen gibt, die bereit sind, in der Zone etwas zu stehlen.

In Tschernobyl lebt niemand, dort arbeitet man nur. 4000 bis 5000 Fachleute kommen als Wachablösungen dorthin. Sie leben in vor 18 Jahren zurückgelassenen fünfgeschossigen Wohnhäusern. Deswegen sieht diese Stadt nicht menschenleer aus, hinter den Fenstern hängen Vorhänge, stehen Pflanzen und die Zäune sind gestrichen. Das "lebendige" Bild erscheint aber vor dem Hintergrund verlassener Häuser künstlich. Es ist bekannt, dass in Tschernobyl keine gewöhnlichen Menschen leben. Die verlassenen Dörfer sind kein Bild für schwache Nerven. Es ist ein wahrer Dschungel, durch den man die Häuser kaum erkennt. Verlassene Häuser und vernachlässigte Straßen mit kaputten Laternen, ein Telefonhäuschen aus der Sowjetzeit, das es heute auf den Straßen gar nicht mehr gibt, und Sprüche wie, "Heimatstadt, wir werden dich niemals vergessen", auf Wänden von Wohnungen der Stadt Prypjat – das sind alles Bilder, die jedes Jahr alle Fernsehsender anlässlich des Jahrestages der Tschernobyl-Tragöde zeigen. Dies alles mit eigenen Augen zu sehen, ist aber eine völlig andere Sache. Vor 18 Jahren haben die Menschen diesen Ort verlassen. Sie durften nur Dokumente und Geld mitnehmen, weil man ihnen gesagt hatte, sie würden nur für einige Tage weggebracht. Wie es sich herausstellte, sollte es für den Rest des Lebens sein. Heute sagen Fachleute, dass die "Lüge für die Wahrheit" vielen Menschen das Leben gerettet hatte. Wenn die Menschen gewusst hätten, dass sie niemals in ihre Wohnungen zurückkehren würden, wäre es schwer gefallen, sie alle an einem Tag zu evakuieren. Jedes Jahr suchen eine Woche nach Ostern fast 20 000 Menschen die vernachlässigten Friedhöfe in der Tschernobyl-Zone auf.

Wissenschaftlern zufolge ist die zulässige Dosis für einen Menschen eine Strahlung von 30-40 Mikroröntgen. Zum Vergleich: Im ehemaligen sogenannten "Braunen Wald" in der Zone erreicht die Strahlung 2000 (!) Mikroröntgen. Die Wissenschaftler sind sich einig: Dieses Stück Land wird niemals sauber sein. Nach der Tschernobyl-Katastrophe hat sich die gefährliche Zone praktisch in einen Naturschutzpark verwandelt. Dort ist Landwirtschaft untersagt. Man darf nicht jagen, fischen sowie keine Pilze und Beeren sammeln und sie schon gar nicht essen. Weil der Mensch in die Natur nicht mehr eingreift, haben sich in der Zone viele Vögel, seltene Tiere und im Fluss Fische angesiedelt. Man sagt, dass im Fluss gewaltige Welse leben und in den Wäldern Luchse, Dachse, Elche, Rehe und Wildschweine. Dem Leiter der staatlichen Zonen-Verwaltung, Wolodymyr Choloscha, zufolge zeigen Untersuchungen, dass man die Pilze, Beeren, das Fleisch und den Fisch nicht verzehren darf. Es bleibt aber ein gewisses "Freizeitinteresse" der Menschen, die zudem auch von irgendetwas leben müssen. Es gibt Gerüchte, wonach in der Zone wahre Safaris veranstaltet würden und dass von dort Holz weggebracht werde. Dass es Wilderer gibt, gesteht die staatliche Verwaltung ein. "Unsere Mitarbeiter machen sich zusammen mit der Miliz ständig auf die Suche und im Jahr 2003 wurden in der Zone 47 Wilderer gefasst", sagte Wolodymyr Choloscha. Die Leitung der Zonen-Verwaltung hatte bereits mehrfach davor gewarnt, Lebensmittel auf illegalen Märkten zu kaufen. Es sei nicht auszuschließen, dass dort Pilze und Beeren aus Tschenobyl angeboten würden. Mit "Tschenobyl-Pilzen" und "Tschenobyl-Beeren" verdienen sich aber auch Einwohner von Dörfern, die an die Zone grenzen, Geld. Die Saison beginnt im Frühling. In ganzen Brigaden ziehen sie los, um die "Gaben der Wälder" zu sammeln, um sie dann in der Hauptstadt zu verkaufen.

Die gesamte Fläche der Zone beläuft sich auf fast 3000 Quadratkilometer und es ist schwierig, ein solches Gebiet zu kontrollieren.

Das wohl größte Problem sind aber die Überschwemmungen, weil fast 90 Prozent der Radionuklide sich über das Wasser verbreiten. Während des Hochwassers der Flüsse gelangt Wasser auf verseuchtes Land und spült Radionuklide in den Fluss Prypjat. Die größten Überschwemmungen gab es 1991, 1994 und 1999. Gerade dann wurde beschlossen, Schutzdämme zu bauen – einen auf dem linken Ufer mit einer Länge von elf Kilometern, der 1991 fertiggestellt wurde, und einen auf dem rechten Ufer, der dieses Jahr fertiggestellt werden soll.

Im Rahmen der Beseitigung der Folgen der Tschernobyl-Tragödie ist vor allem vorgesehen, den ökologischen Zustand der Umwelt aufrechtzuerhalten. Deswegen sorgen Sonderdienste, die in der Zone arbeiten, dafür, dass die Verbreitung von Radionukliden über Wasser, Luft und technisches Gerät über die Grenzen der Zone hinweg gering gehalten wird. Sie schützen das Gebiet, pflegen die Wälder und überwachen die Strahlung. Heute gibt es in der Tschernobyl-Zone eine große Feuerwache, die rund um die Uhr in den Wäldern patrouilliert. Heute haben alle Fachleute, die an dieser Sache beteiligt sind, eine vorrangige Aufgabe: Den Bau und die Vorbereitung der Inbetriebnahme des Komplexes "Wektor", zur Verarbeitung und Endlagerung von radioaktiven Abfällen. Die Planung und der Bau des zweiten Teils ist für dieses Jahr vorgesehen. Dafür wurden 12 Millionen Hrywnja bereitgestellt.

Seit dem Jahr 2000 werden für dringende Maßnahmen in der Zone jährlich 64,8 Millionen Hrywnja zur Verfügung gestellt, aber die Inflation betrug allein im Jahr 2003 8,2 Prozent. Die Finanznot wirkt sich ernsthaft auf die Baumaßnahmen in der Zone aus. Trotzdem wollen dem stellvertretenden Katastrophenschutzminister Oleksandr Kapitula zufolge die Staatliche Verwaltung der Zone und Betriebe des Katastrophenschutzministeriums die Planung zur Sanierung des Endlagers für radioaktive Abfälle "Burjakiwka" abschließen und das Projekt bewilligen. Ferner soll das Lager "Rosocha-1", wo radioaktiv verseuchtes technisches Gerät aufbewahrt wird, aufgelöst werden. Dieses Jahr soll auch das Projekt für einen neuen sicheren Schutzmantel abgeschlossen werden. Schon bald soll mit den Bauarbeiten begonnen werden. (MO)