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16 Familien in einer Wohnung

Juri Rescheto13. September 2016

Sie sind das Überbleibsel der Sowjet-Epoche: Kommunalkas, die Gemeinschaftswohnungen. Doch anders als temporäre Studenten-WGs im Westen sind Kommunalkas meist wild zusammengewürfelt. Juri Rescheto war in einer zu Gast.

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Blick in die Küche einer Kommunalka in St. Petersburg (Foto: DW/R. Richter)
Bild: R. Richter

Entschuldigung, aber das ist das Erste was mir auffällt, ist der Geruch: Im Treppenhaus riecht es streng. Die Haustür schließt nicht richtig und der Kiosk ist gleich um die Ecke. Dort wird Bier verkauft. Viel Bier.

Wenn man aber die erste Herausforderung für seine Sinnesorgane hinter sich hat und im dritten Stock eines wunderschönen und herrlich heruntergekommenen Jugendstilbaus angekommen ist, öffnet sich ein Reich. Das Reich der Stimmen und Stimmungen, der Menschen und Meinungen, der Gerichte und Gerüchte, das Reich der Kommunalka am Ligowski Prospekt drei in der russischen Millionenmetropole Sankt Petersburg.

Der verdreckte Herd in der Kommunalka-Küche (Foto: DW/R. Richter)
Der verdreckte Herd in der Kommunalka-KücheBild: R. Richter

Die Gemeinschaftswohnung nimmt eine ganze Etage ein und stellt einen schlichten Grundriss dar. Der zwölf Meter lange und vier Meter hohe Kommunalka-Flur, von dem rechts und links zehn Quadratmeter winzige Kommunalka-Zimmer abgehen. Am Ende des Flures sind Wanne und Klo. Und eine Küche. Für alle. Für sechzehn Familien, für die Kommunalka-Bewohner, männlich, weiblich, jung und alt.

Küche - Kommandozentrale und Hirn der Kommunalka

Der Flur ist dunkel, die Wandfarbe bröckelt. Die Hälfte der Leuchten leuchtet nicht. Am Ende ist aber Licht. Das Tageslicht in der Küche, im Herzen der Kommunalka, in ihrer Kommandozentrale und ihrem Hirn. Hier herrscht Polina. Polina ist die älteste Kommunalka-Bewohnerin, im Sinne der Wohndauer, die Mittdreißigerin wurde hier geboren und hat hier die meisten Rechte.Denn: "Hier herrscht klare Hierarchie", offenbart die sympathische Mutter namens Polina die Geheimnisse der friedlichen Kommunalka-Ko-Existenz, während an ihrem Busen ein Baby saugt, welches mit mir flirtet. "Einwohner, die hier am längsten einwohnen, haben die meisten Rechte. Wie ich. Sie dürfen in der Küche einen eigenen Tisch haben und eine Ecke vom Herd."

Die Bewohnerin Polina mit ihrem Baby Alexandra auf dem Schoß (Foto: DW/R. Richter)
Die älteste Bewohnerin Polina mit ihrem Baby Alexandra auf dem SchoßBild: R. Richter

Jede Familie hat seine eigenen Klobrille

Fünf Tische und zwei Herde für sechzehn Familien. Wer kochen will, muss anstehen. Die einzige Waschmaschine ist im Dauereinsatz. Klick! Der Lichtschalter vom Klo. Polinas Lebensbegleiter Evgenij grüßt freundlich. In der einen Hand das rosafarbene Klopapier, in der anderen die cremefarbene Klobrille. Jede Familie hat seine eigene. "Guten Tag!", sagt Evgenij. "Willkommen bei uns! Hier verwischen sich die Grenzen zwischen Intimität und Gemeinschaft."

Eine Asiatin schlürft mit ihren Hauspuschen herein. Ich erfahre, dass sie Usbekin ist, ihren Namen erfahre ich nicht. Von den sechzehn Familien sind fast die Hälfte Usbeken, das sind Gastarbeiter, die in Russland ein Vielfaches ihres Gehalts in Usbekistan verdienen. Zuerst reden sie nicht mit mir, sind misstrauisch dem Reporter aus dem Westen gegenüber. Später freunden wir uns an.

Nur die Usbeken stören die Gemütlichkeit

Polina spricht gern viel und offen und bittet mich schon nach fünf Minuten in ihr Zimmer herein. Als ich das Altbau-Eckappartment mit aufwendigem Stuck betrete, stellt sich mir erst mal der rothaarige Joaschik in den Weg. Der Kommunalka-Kater. Früher lebte hier noch eine Ratte und ein Wellensittich, dann waren sie weg...

Das Eichenparkett knarrt vertraulich. Ich fühle mich auf dem einzigen Sofa wohl. "Warum leben Sie hier? Mit so vielen Menschen und so wenig Komfort?", frage ich Polina. "Weil das bequem ist", lächelt sie. "Und günstig. Wir zahlen ein Drittel von dem, was die anderen im Zentrum zahlen. Und wir finden es gar nicht so schlimm hier. Es ist doch gemütlich. Nur die Usbeken werden immer mehr. Das ist weniger gemütlich."

Das heruntergekommene Badezimmer in einer Kommunalka in St. Petersburg (Foto: DW/R. Richter)
Günstig, aber schäbig: das BadezimmerBild: R. Richter

Usbeken sind wie Tadschiken seit ein paar Jahren nicht mehr aus dem Straßenbild von Sankt Petersburg wegzudenken. Sie bedienen an Kassen der Supermärkte und putzen in Zimmern der Hotels, sie sind als Straßenreiniger, Marktverkäufer und Taxifahrer unterwegs. Sie sind Gastarbeiter, die von ihren Familien in Zentralasien getrennt leben müssen, um ihre Familien in Zentralasien finanziell zu unterstützen. Mit Geld aus Russland.

Gegessen wird getrennt

"Plow", sagt die namentlich anonyme usbekische Frau: "Bitte!" Ich probiere das usbekische Nationalgericht aus Reis, Möhren und Hammelfleisch. Köstlich!

Wer glaubt, Kommunalka-Bewohner essen manchmal zusammen, der irrt. Sie essen überhaupt nicht. Zumindest nicht sichtbar. Denn zubereitet in der Gemeinschaftsküche, werden die Mahlzeiten getrennt in den Einzelzimmern eingenommen. Manchmal am Boden mangels Sitzplatz - wie bei dem gastfreundlichen Usbekenpaar.

Die usbekische Bewohnerin kocht ein Reisgericht in der Küche der Kommunalka in St. Petersburg (Foto: DW/R. Richter)
Die usbekische Bewohnerin kocht ihr NationalgerichtBild: R. Richter

"Wen sollen wir auch wählen?"

"Wir leben mit allen friedlich zusammen", sagt später Polina, bei der ich nach dem usbekischen Plow zum Kaffee eingeladen bin. Und zu einer ausgiebigen Erzählstunde in der russischen Küchenphilosophie. Wer wissen will, wie ein Russe tickt, muss in die Küche!

Die usbekischen Bewohner der Kommunalka in St. Petersburg beim Essen (Foto: DW/R. Richter)
Gegessen wird beengt und im privaten ZimmerBild: R. Richter

"Duma-Wahlen? Wann war ich das letzte Mal überhaupt wählen?", fragt Polina ihren Lebensgefährten Evgenij. Baby Alexandra flirtet wieder am Busen. Kater Joaschik will spielen. "Anfang der 2000er", antwortet Evgenij, der anders als Alexandra und Joaschik an einer ernsthaften Konversation Interesse zeigt. Neben Polina.

"Wen sollen wir auch wählen?", sagt der junge Mann. "Eine echte Opposition haben wir nicht. Eine mit dem eigenen Programm, die uns ein besseres Leben versprochen hätte."

Polina ergänzt: "So ein großes Land wie Russland braucht ohnehin einen imperialen Führungsstil mit totalitären Zügen. Wer das ändern will, muss Unruhen riskieren. Ich will das nicht."

Putin sichert sich mit Stabilität die Zustimmung

"Diesen imperialen Führungsstil mit totalitären Zügen" nehmen viele Russen hin, um wie sie glauben, Ruhe zu haben.

"Das heutige Russland erinnert an die Sowjetunion der siebziger Jahre. Am Ende kollabiert die Wirtschaft und ein neues Leben beginnt. Aber wir werden es nicht mehr erleben. Darum haben wir auch keine großen Zukunftspläne", gesteht Polina. Ihr Freund stimmt ihr zu: "Wir leben hier und heute. Nichts hindert uns daran, in diesem Land glücklich zu sein. Oder sagen wir lieber: Nichts hassen wir so sehr hier, dass wir abhauen müssten. Klar haben wir in Russland Mängel. Aber welches Land hat sie nicht?"

Stabilität ist das, womit Kremlchef Putin sich die Zustimmung im Land sichert. Die Zustimmung vieler Polinas und Evgenijs. Aber wie lange noch? Die aktuelle Wirtschaftskrise macht eine stabile Zukunft Russlands immer unsicherer. Die Preise steigen und die Löhne sinken. Und die Kommunalka? Die Kommunalka bleibt. Hier finden die Menschen ihren Halt. Trotz der klaren Hierarchie. Oder vielleicht dank ihr?