10 Bücher für den Sommer
9. Juli 2016Donald Antrim: Die 100 Brüder
Kein Geringerer als Jonathan Franzen hat das Vorwort zur deutschen Ausgabe von "Die Hundert Brüder" seines Landsmanns Donald Antrim geschrieben. Der Rowohlt-Verlag, der sich seit vergangenem Jahr intensiv um das Werk des 1985 in Florida geborenen Schriftstellers für den deutschsprachigen Raum bemüht, zitiert Franzen sowie den Kollegen Jeffrey Eugenides gern mit dem Satz, Donald Antrim sei das "eigentliche Genie" unter den drei ehemaligen Studienkollegen. Doch Vorsicht! Antrim schreibt ganz anders. Sein bereits 1997 in den USA erschienener Roman "Die Hundert Brüder" ist ein surreales Stück Prosa über 99 leibliche Brüder (einer fehlt), die sich in einer alten Bibliothek treffen. Dort wollen sie die Urne ihres Vaters, "des alten Herren", bestatten. Antrim schreibt so, als hätten Franz Kafka und die Marx-Brothers gemeinsam ein Buch verfasst.
Donald Antrim: Die 100 Brüder, Rowohlt Verlag tb, dt. Erstausgabe, aus dem amerikanischen Englisch von Gottfried Röckelein, 218 Seiten, ISBN 978-3-499-27077-2.
Michail Bulgakow: Das hündische Herz
Ein Stück aus dem literarischen Tollhaus ist auch Michail Bulgakows Novelle "Das hündische Herz" aus dem Jahre 1925. Die Erzählung über einen Straßenköter, der im Sowjetreich der 20er Jahre das Herz eines Kleinkriminellen eingepflanzt bekommt, wurde vor drei Jahre neu übersetzt. Jetzt ist die Satire auf ungestümen sowjetischen Fortschrittsglauben in einer wunderschönen, illustrierten Ausgabe bei der Büchergilde Gutenberg erschienen: mit Grafiken von Christian Gralingen, die an die damals moderne zeitgenössische Sowjetkunst erinnern, einem schönem Einband, verschiedenen Papierarten und weiteren bibliophilen Spielereien. Bulgakows Text, der so viele Jahre in Archiven schlummerte und auch in Russland erst im Wendejahr 1989 in einer anständigen Fassung erschien, ist eine literarische Kostbarkeit.
Michail Bulgakow: Das hündische Herz, Edition Büchergilde, neu gestaltete Ausgabe, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, 190 Seiten, Illustrationen von Christian Gralingen, ISBN 978-3-86406-062-5.
Anthony Doerr: Memory Wall
Ob Anthony Doerr auch einmal zu den Großen der Literatur zu zählen sein wird, bleibt abzuwarten. Der US-Amerikaner bekam im vergangenen Jahr für seinen Roman "Alles Licht, das wir nicht sehen" den Pulitzer-Preis. Der deutsche Verlag legt jetzt eine Novelle Doerrs aus dem Jahr 2010 nach. In "Memory Wall" dreht sich alles ums Erinnern. Das Buch greift das aktuelle Thema Demenz auf: Die 74-jährige Alma verliert ihr Gedächtnis und versucht sich dagegen mit einer neuartigen medizinisch-wissenschaftlichen Technik zu Wehr zu setzen. Ihr kürzlich verstorbener Mann, eine Fossilien-Fachmann, hatte kurz vor seinem Tod noch einen seltenen Fund gemacht. Doch wo der sich jetzt befindet, weiß niemand. Zwei Kleinkriminelle versuchen an die Fossile zu kommen. Doch wie gelangt man an die Erinnerung einer Demenzkranken? Der in Kapstadt angesiedelte Kurzroman ist ein kleines poetisches Kabinettstück mit großen literarischen Ambitionen.
Anthony Doerr: Memory Wall, Beck, aus dem amerikanischen Englisch von Werner Löcher-Lawrence, 136 Seiten, ISBN 978-3-406-68961-1.
Pierre Drieu la Rochelle: Die Komödie von Charleroi
Eine erstaunliche deutsche Erstausgabe hat der Leser mit den Erzählungen des französischen Autors Pierre Drieu la Rochelle in den Händen. Das Buch kam bei unseren Nachbarn 1934 heraus - erst jetzt folgte die deutsche Übersetzung. Das hat seinen Grund. Der Autor sympathisierte in den 1930er und '40er Jahren mit den Deutschen. Kurz nach Kriegsende brachte er sich um. Doch la Rochelle war auch ein guter Schriftsteller - und ähnlich wie bei Ernst Jünger, mit dem er manchmal verglichen wird -, tut man sich hierzulande schwer mit Autoren, die den Nazis nahe standen. Doch alle simplen Einordnungen greifen zu kurz. In den sechs Novellen, die um die autobiografisch gefärbten Erlebnisse im Ersten Weltkrieg kreisen, stößt man auf Sätze wie: "Krieg ist nicht mehr Krieg. Ihr werdet es eines Tages sehen, Faschisten aller Länder, wenn ihr euch flach auf den Boden drückt mit eurer vollgeschissenen Hose."
Pierre Drieu la Rochelle: Die Komödie von Charleroi, Manesse, aus dem Französischen von Andrea Spingler und Eva Moldenhauer, ISBN 978-3-7175-2396-3.
Jane Gardam: Eine treue Frau
Mit den ersten beiden Bänden ihrer "Old-Filth"-Trilogie hat sich die am 11. Juli 1928 geborene englische Schriftstellerin Jane Gardam in die Herzen der deutschen Leser geschrieben. "Eine untreue Frau" beschreibt im nun vorliegenden zweiten Teil das Geschehen aus der Perspektive von Elisabeth Feathers. Die ist Gattin eines erfolgreichen Anwalts, der in der britischen Kronkolonie Hongkong zu viel Ansehen und Geld gekommen ist. Die Ehe ist kinderlos geblieben und, wie wir im zweiten Teil erfahren, war das nicht der Wunsch Elisabeths. Anwalt Edward ist eine Art Autist, unfähig eine Beziehung aufzubauen. Der Trick hinter Gardams literarischer Trilogie: In jedem Roman wird die Perspektive einer der drei Hauptfiguren geboten. Im ersten Teil die Edwards und nach dem nun vorliegenden Teil Zwei erfahren wir im Abschlussband, der im Herbst erscheint, die Sicht der Dinge aus der Perspektive von Edwards Konkurrent und Elisabeths Ex-Liebhaber. Gardam bietet große britische Erzählkunst.
Jane Gardam: Eine treue Frau, Hanser Berlin, aus dem Englischen von Isabel Bogdan, 272 Seiten, ISBN 978-3-446250741.
Joshua Groß: Faunenschnitt
Der junge Deutsche Joshua Groß, Jahrgang 1989, legt mit "Faunenschnitt" ein Buch vor, das sich sämtlichen literarischen Einordnungen widersetzt. Das beginnt schon mit der Ausstattung. Das Buch ist wunderschön anzusehen und ein bibliophiles Schmuckstück. Es sollte unbedingt mit einem Messer zur Hand genommen werden: Die Fotografien von Hannah Gebauer kann der Leser nur sehen, wenn er sie aufschneidet. Der Roman selbst ist surreal und romantisch. Jede Inhaltsangabe des Geschehens würde in die Irre führen. Trotzdem ein paar Details: Es geht um eine Reise ins Salzkammergut, um Raubkunst der Nazis, ein halluzinogenes Kraut namens Arung, den Dichter Milos Archibald Novalsky und einen beigen Hund. Wem das alles spanisch vorkommt, liegt richtig. "Faunenschnitt" liest sich, als ob Christoph Ransmayr und Christian Kracht gemeinsam einen LSD-Tripp geschmissen hätten: Hoch- und Popkultur in einem, Romantik und surreales Spiel miteinander verwoben. Ein sprachliches Abenteuer.
Joshua Groß, Fotografien von Hannah Gebauer: Faunenschnitt, 122 Seiten, Starfruit Publications, 122 Seiten, ISBN 978-3-922-895299.
Irène Némirovsky: Pariser Symphonie
Abenteuerlich sind auch die Wege, die die Manuskripte der Autorin Irène Némirovsky hinter sich haben. Némirovsky, in Kiew geboren, verließ ihre Heimat, das russische Reich, im Alter von 15 Jahren nach anti-jüdischen Pogromen. In Paris wurde sie in den 1920er Jahren zu einem vielgelesenen literarischen Star. Als die Nazis kamen, flüchtet sie ins französische Burgund. 1942 wurde sie von dort nach Auschwitz verschleppt, wo sie starb. In den letzten Jahren wurden die Romane dieser ungeheuer produktiven Autorin zum Teil erstveröffentlicht. Nun folgen auch die kürzeren Texte, Novellen sowie Manuskripte, die sie fürs Kino schrieb. Dabei experimentierte sie auch mit der Form. Die titelgebende Erzählung "Pariser Symphonie" liest sich wie ein Film-Script. In anderen Erzählungen zeigt Némirovsky auch thematisch, das sie kaum Grenzen kannte. Erzählungen wie "Die Geister" und "Magie" zeigen sie als französische Erbin von Henry James und der Gothic Novel.
Irène Némirovsky: Pariser Symphonie, Manesse, aus dem Französischen von Susanne Röckel, 226 Seiten, ISBN 978-3-7175-2412-0.
Jona Oberski: Kinderjahre
Auch Jona Oberskis Eltern wurden vertrieben. Vor den Nazis flüchteten sie bei Kriegsausbruch in die Niederlande. Als der kleine Jona vier Jahre alt war, wurde er mit seinen Eltern nach Bergen-Belsen deportiert. Vater und Mutter starben. Nach dem Krieg wuchs er bei Pflegeeltern auf. Viele Jahre später erinnerte er sich des Grauens und brachte es zu Papier. Jona Oberski, eigentlich Nuklearphysiker, verfasste sein Buch "Kinderjahre" 1978. Ganz nüchtern und ungeschminkt aus Kinderperspektive beschreibt er das Geschehen - aus der Erinnerung, aber trotzdem ungeheuer empfindsam und nachdrücklich. "Kinderjahre" war Ende der 70er Jahre ein Welterfolg, in Deutschland war das Buch lange vergessen. Die Niederlande sind in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Gut, dass dieser Klassiker der Holocaust-Literatur, der neben Texten von Imre Kertész oder Anne Frank bestehen kann, wieder vorliegt.
Jona Oberski: Kinderjahre, Diogenes, aus dem Niederländischen von Maria Csolláry, 150 Seiten, ISBN 978-3-257-06962-4.
Hans Pleschinski: Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht - Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel
Kein Wort über Antisemitismus kam aus dem Mund von Else Sohn-Rethel (1853 - 1933), die aus dem Milieu des kulturell reichen, deutsch-jüdischen Großbürgertums stammte. Auf ihre Erinnerungen ist der Schriftsteller Hans Pleschinski per Zufall gestoßen, als er für sein Thomas Mann-Buch "Königsallee" recherchierte. Pleschinski, dem der deutsche Leser schon einige der anregendsten Erinnerungsbücher verdankt, schlägt mit Hilfe der Aufzeichnungen von Else Sohn-Rethel ein Kapitel vergessene deutsche Kulturgeschichte auf, die 1933 ihr Ende fand - im Todesjahr Sohn-Rethels. In einem Interview hat Pleschinski sein Buch als Jahreszeitenbuch bezeichnet: "Ein absolutes Frühlingsbuch, ein Frühling des Lebens in unseren Krisenzeiten". Da derzeit die Jahreszeiten sowieso verrückt spielen, und der Frühling recht verregnet war, passt zum einen der Titel des Bandes und zum anderen eignen sich Else Sohn-Rethels Aufzeichnungen auch als Sommerlektüre.
Hans Pleschinski: Ich war glücklich, ob es regnete oder nicht - Lebenserinnerungen von Else Sohn-Rethel, Beck, 256 Seiten, ISBN 978-3- 406-69165-2.
Kathrine Kressmann Taylor: So träumen die Frauen
Ein zauberhaftes Lesererlebnis bietet der schmale Erzählband "So träumen die Frauen". Kressmann Taylor wurde in Deutschland 2001 wiederentdeckt, als ihr fundamentaler Briefroman "Adressat unbekannt" entdeckt wurde. In dem 1938 in den USA erschienenen Buch philosophierte die Autorin über die Gedankenwelt der Nationalsozialisten. Die 1996 verstorbene US-amerikanische Schriftstellerin schrieb auch viele Erzählungen, von denen nun fünf in deutscher Erstübersetzung vorliegen. Es sind literarische Fundstücke, die ihr Augenmerk auf entscheidende Wendepunkte im Leben ihrer Protagonistinnen lenken. In "Die sterbende Rose" schildert sie ergreifend und einfühlsam vom Altern eines ebenso armen wie stolzen Ehepaares. Eine Erzählung, die so zartfühlend ist, dass man ihr einen Platz unter den allerbesten Kurzgeschichten der modernen US-amerikanischen Literaturgeschichte einräumen will. Und das will nun wirklich etwas heißen.
Kathrin Kressmann Taylor: So träumen die Frauen, Hoffmann und Campe, aus dem amerikanischen Englisch von Marion Hertle, 104 Seiten, ISBN 978-3-455-40574-3.