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Generation Biedermeier

5. Oktober 2010

"Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier" steht über der neuen Rheingold-Jugendstudie. Psychologe Stephan Grünewald ist Mitgründer des Marktforschungsinstituts. Im Interview spricht er über konservative Jugendliche.

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Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitgründer des Marktforschungsinstituts rheingold (Foto: privat)
Stephan GrünewaldBild: Stephan Grünewald

DW-WORLD.DE: Herr Grünewald, seit 18 Jahren analysieren sie mithilfe von Tiefeninterviews die deutsche Jugend. Im Jahr 2002 gaben sie ihr den Namen "Generation Kuscheln", jetzt heißt sie "Generation Biedermeier". Wie kam es dazu?

Stephan Grünewald: Wir waren verblüfft, wie vernünftig, zweckoptimistisch, angepasst und karrierebewusst die Jugendlichen sind. Wenn man sie nach ihren Lebensträumen befragt, sagen sie: ein Haus, zwei Kinder, ein kleiner Garten. Das sind Ideale aus dem Biedermeier. Die Jugendlichen flüchten ins Private.

Das bürgerliche Leben ist also wichtiger als jugendliches Freiheitsstreben. Woher kommt der Wunsch nach dem Rückzug ins Private?

Die Jugendlichen sind wahnsinnig wütend. Wütend auf brüchige, zerrissene und unberechenbare Verhältnisse. Man kennt Patchwork-Schicksale und hat Angst vor Hartz VI. Gleichzeitig ist das Vertrauen in Vater Staat dahin. Wir purzeln von einer Krise in die andere. Der Obervater des Staates, Horst Köhler, begeht Fahnenflucht. In den Teenagerjahren leben die Jugendlichen ihre Wut noch aus. Viele haben uns berichtet, dass sie sich geritzt, geschlagen und Komasaufen veranstaltet haben. Irgendwann aber haben sie gemerkt: Wenn ich meine Wut nicht zügele, dann lande ich nicht im Haus am See, sondern bei Hartz IV. Und dann tritt bei vielen Teenagern eine Wendung vom Saulus zum Paulus ein. Sie werden zu selbstdisziplinierten, kontrollierten, übervernünftigen Jugendlichen.

Das klingt so, als ob die Jugend nicht mehr rebellisch, sondern konservativ ist?

Im bewahrenden Sinne, ja. Angesichts dieser brüchigen Welt wünschen sie sich stabile und berechenbare Lebensverhältnisse.

Wie äußert sich diese konservative Lebenseinstellung?

Die Jugendlichen legen eine sehr starke Ordnungsmanie an den Tag. Werte wie Disziplin, Respekt und Pünktlichkeit werden wieder hochgehalten. Wir waren überrascht, wie reglementiert und ritualisiert die Tagesabläufe sind. Man will schon am Morgen wissen, was der nächste Tag bringt. Man guckt im Fernsehen am liebsten Serien, weil sie Berechenbarkeit stiften. Die Beziehungen von jungen Paaren haben schon fast eheähnliche Strukturen. Man sitzt abends Händchen haltend vor dem Fernseher, man bekocht sich. Es gibt ein ungeheures Treuediktat.

Fragt man Jugendliche auf der Straße, sagen die meisten: Nein, konservativ bin ich nicht - und wenn dann nur ein bisschen. Wie erklären sie sich das?

Natürlich bezeichnen sich die Jugendlichen nicht als konservativ. Sie haben ja das Gefühl, über die Stränge zu schlagen. Nur mit dem Blick des Psychologen, der jetzt seit zwei Jahrzehnten jugendliche Generationen vor sich sitzen hat, merkt man: Die Jugendlichen handeln sehr viel gebremster, sehr viel moderater, sehr viel ausbalancierter.

Wenn die Jugendlichen nicht mehr rebellieren, wer tut es dann? Wie wirkt sich eine überangepasste Jugend auf die deutsche Gesellschaft aus?

Der Generationskonflikt als Motor der Entwicklung ist derzeit lahmgelegt. Die Jugendlichen begreifen ihre Eltern und die Politiker nicht als Feindbilder. Die Eltern sind jovial und freundlich, die Politiker hilflos. Es gibt also wenig Angriffsfläche für eine Revolte. Die Jugendlichen sind bereit, sich anzupassen und streben nicht danach, unser Gemeinwesen anders zu gestalten.

Das ist für die Entwicklung Deutschlands nicht besonders förderlich, oder?

Wir glauben, dass sich die Jugend in den nächsten acht bis zehn Jahren wieder programmatisch radikalisieren wird. Die Jugendlichen werden aus dieser brüchigen Wirklichkeit ausbrechen wollen und sich auf die Suche nach klaren Positionen begeben, für die es sich zu kämpfen lohnt. Dann wird es auch wieder einen neuen Generationskonflikt geben.

Interview: Gesche Brock

Redaktion: Kay-Alexander Scholz