Nachhaltigkeit statt Wachstum
3. August 2010Die Diskussion wird seit über dreißig Jahren geführt. Jetzt erhält sie einen neuen Schub: Denn die globale Finanzkrise und der Klimawandel haben den Sinn des herkömmlichen Wirtschaftsmodells mehr denn je in Frage gestellt. Vater dieser Diskussion ist Gerhard Scherhorn, emeritierter Professor aus Mannheim. Substanzverzehr - darin sieht er das zentrale Problem der Menschheit: "Wir verzehren die naturgegebenen Gemeingüter durch Überfischung der Weltmeere, Absenkung des Grundwassers, Verringerung der Artenvielfalt, Erwärmung des Klimas", beschreibt er den Raubbau an der Natur.
Ähnlich denkt Michael Müller, ehemaliger Staatssekretär des Umweltministeriums: "Es geht darum, dass wir jetzt eine industriegeschichtliche Entwicklung hinter uns haben, wo sozusagen die stoffliche Seite der Erde und des Lebens verschwenderisch und ignorant behandelt wurde."
Grenzen des Wachstums sind erreicht
Nirgendwo werden die Folgen des verschwenderischen Umgangs mit den Ressourcen so deutlich spürbar wie in dem Wirtschaftswunderland China. Über 80 Prozent der Flüsse gelten als verseucht. 16 der 20 weltweit am stärksten verschmutzten Städte liegen in China. Zwar wird dort seit 30 Jahren ein jährliches Wachstum von knapp zehn Prozent erzielt, doch würden je nach Rechnung zwischen fünf und sieben Prozent des Wachstums wieder durch Umweltschäden aufgefressen, sagt Michael Müller und warnt gleichzeitig vor den Folgen des Klimawandels für das aufstrebende Land: "Wenn ich die Studien des Weltklimarates sehe, dann wird eine Erwärmung vor allem die industriellen Zonen in den Flussdeltas massiv bedrohen. Das heißt, da muss China gewaltige Umsiedlungsprogramme organisieren und finanzieren. Ich weiß nicht, ob das Land das kann. Auf jeden Fall wäre es eine menschliche Tragödie." Sein Fazit: Die Grenzen des Wachstums seien weltweit erreicht.
Ökologischer Umbau
Ein ökologischer Umbau müsse stattfinden, fordert auch Hans Diefenbacher, Wirtschaftswissenschaftler aus Heidelberg. Man könne in Deutschland sofort damit anfangen: "Wir können uns vornehmen, den Altbaubestand innerhalb der nächsten 30 Jahre Wärme zu dämmen, drei Prozent pro Jahr. Wir können den Fahrzeugpark umbauen. Wir können die öffentlichen Nahverkehrssysteme ausbauen."
Er appelliert an alle, etwas genügsamer und bescheidener zu werden. Eine Veränderung unseres Lebensstils könnte zu einem Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts führen, auf dessen Wachstum bisher die Politik aber fixiert ist. Lösungsvorschlag von Diefenbacher, um aus dieser Wachstumsfalle rauszukommen: Das BIP soll ersetzt werden durch einen neuen Wohlstandsindikator, denn wichtige Bereiche werden in der Messung der Produktion nicht berücksichtigt: "Zum einen ist die Einkommensverteilung in diesem Maß Bruttoinlandsprodukt nicht enthalten. Zweitens bildet es die ökologischen Schäden, das heißt, die negativen externen Kosten beim Produzieren, aber auch beim Konsumieren nicht ab." Es bilde auch den Naturverbrauch nicht richtig ab, also unseren unwiederbringlichen Verbrauch an nicht erneuerbaren Ressourcen, sagt Diefenbacher weiter.
Wohlstandsindikator statt BIP
Mit anderen Worten: Einkommensverteilung und Ressourcenverbrauch müssten im neuen Indikator mitberechnet werden. Aber auch Hausarbeit und ehrenamtliche Tätigkeiten gehören laut Diefenbacher als positive Faktoren dazu.
Seit Mitte der achtziger Jahre beschäftigt sich der Wirtschaftswissenschaftler mit der Frage, wie man Wachstum misst. Lange Zeit wurde der Diskussion über Wachstumsfalle und Nachhaltigkeit wenig Beachtung geschenkt. Nun sei diese Debatte dabei, aus der Nische rauszukommen, ist Michael Müller überzeugt: "Es ist aus meiner Sicht ein Thema, das im Augenblick brodelt. Es ist noch unter der Oberfläche, aber es elektrisiert immer mehr Menschen."
Auch auf europäischer Ebene ist eine Wachstumsdebatte ausgebrochen. In manchen Ländern ist sie weiter vorangeschritten als in Deutschland. So kam eine vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy beauftragte Kommission unter der Leitung des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz im vergangenen Jahr auch zu dem Schluss, dass das BIP kein ausreichender Indikator sei, sondern dass das Einkommen und der Konsum mit erfasst werden müssten.
Autorin: Zhang Danhong
Redaktion: Klaus Ulrich