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Blättern ohne Buch

Ingun Arnold26. November 2004

Alte Bücher lieben klimatisierte Räume, schummriges Licht und verdeckte Vitrinen. Zutritt streng begrenzt! Deshalb hat die British Library zehn wertvolle Bücher digitalisiert. Jetzt kann jeder nach Herzenslust stöbern.

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Die "Lindisfarne Gospels": ein Meisterwerk frühmittelalterlicher BuchmalereiBild: british library


Nehmen Sie doch einfach die virtuelle Lupe zur Hand und schauen Sie sich die Kostbarkeiten genauer an: Im Notizbuch von Leonardo da Vinci gibt es einen Spiegelknopf, der den Text herumdreht. So lässt sich die Spiegelschrift des italienischen Universalgenies besser entziffern. Sultan Baybar's Qur'an, in Goldschrift geschrieben, kann man sich vorlesen lassen – ganz, wie es sich nach islamischer Tradition für das Wort Gottes gehört. Ein Klick auf den "Recitation Button" genügt.

Leonardo
Leonardos NotizbuchBild: british library

Das "Sherborne Missal" ist mit Vogelstimmen und Messgesängen dekoriert. Das Original des "Missals" wiegt 20 Kilogramm, ist 800 Jahre alt und 15 Millionen Britische Pfund (22 Millionen Euro) wert. Es ist das prächtigste katholische Messbuch, das den Bilder- und Büchersturm der Reformation überlebt hat. 1998 überließ es der Herzog von Northumberland der British Library. Bedingung: Die Bibliothek solle es digitalisieren.

Sherborne
Sherborne MissalBild: british library

Perfekte Illusion in 3-D

"Virtuelle Bücher werden gemacht wie Disney cartoons", sagt Clive Izard von der British Library und erklärt DW-WORLD, wie das geht: Die Bücher werden Seite für Seite fotografiert und anschließend am Computer "reanimiert".

Sutra
Sultan Baybar's Qur'anBild: british library

Eine spezielle Software modelliert dabei Blättergefühl und Buchschwere – ein schmales Büchlein aus feinstem Pergament blättert sich anders und liegt auch anders in der Hand als der dicke Wälzer aus der Renaissance-Zeit. Geblättert wird dafür selbstverständlich nicht in den Originalen, sondern in Vergleichsmaterialien. "Wir rekonstruieren, wie sich das Buch 'verhält'", sagt Izard. Was nichts anderes heißt als: Wie bewegen sich Buchrücken und Bindung? Entspricht die Textur des Materials, die Brillanz der Farben dem Original? Stimmt das virtuelle Blättertempo?

Um die 1000 Pfund (ca. 1500 Euro) kostet das Verfahren pro Buchseite, denn "die virtuellen Bücher kriegen das komplette Hollywood-Treatment." Das fertige 3-D-Buch ist genauso groß wie das Original – inklusive Goldschnitt, Lederprägung und Signaturen. Die Internetversion (siehe Link "Turning the Pages") ist mit 100 bis 200 Pfund (150 bis 300 Euro) pro Seite vergleichsweise preiswert. Doch Aufwand und Ausgaben zahlen sich aus.

Blackwells
Blackwell's HerbalBild: british library

Cleveres Bibliotheksmarketing

Bereits 1998 hat die British Library die ersten vier Bücher ins Netz gestellt. Schlagartig kletterten die Zugriffszahlen der Internetseite um das Zwanzigfache "und gehen seitdem auch nicht mehr runter." Mehr als 3000 Leute aus 120 Ländern von den USA bis Nepal, vom Iran bis Kuba klicken sich jeden Tag durch die Bücher. "Früher konnten nur ein paar wenige Besucher am Tag ein paar wenige Seiten in Augenschein nehmen", erinnert sich Izard. "Heute können wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Wir gewähren jedem jederzeit Zugang zu den Büchern. Gleichzeitig können wir die Originale unter Verschluss halten."

Hagadah
The Golden HagadahBild: british library

Das Know-How verkaufen die Briten auch erfolgreich an andere Bibliotheken: Auf der Website der US-amerikanischen National Library of Medicine lehrt ein virtuelles chirurgisches Lehrbuch von 1585 das Gruseln. Die National Library of Ireland hat zum 100. Jahrestag des Bloomsday sechs "Ulysses"-Bücher digital aufbereiten lassen. Sie sind bis Sommer 2005 in einer Ausstellung in Dublin zu sehen. Schade nur, dass man nicht im Internet darin blättern kann …

Vesalius
Andreas VesaliusBild: british library