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Politik

"Kinderehen abschaffen!"

Mariel Müller
3. November 2016

Kinderehen werden häufig aus Armut und Tradition geschlossen. Sie verhindern Bildung und fördern häusliche Gewalt, worunter besonders junge Mädchen leiden, so Monika Michell von Terre des Femmes im DW-Interview.

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Afghanistan: Eine 17-jährige Zwangsverheirate im Frauenhaus in Bamiyan
Bild: Getty Images/P. Bronstein

Deutsche Welle: Schätzungen zufolge werden bis zu 700 Millionen Kinderehen geschlossen. In den meisten Fällen werden minderjährige Mädchen, oftmals sind sie sogar unter 15, mit älteren Männern verheiratet. Was sind die Gründe für solch frühe Eheschließungen?

Monika Michell: Armut spielt eine große Rolle. In Wechselwirkung mit den patriarchalen Vorstellungen, die häufig in den Familien herrschen, heißt das: Mädchen sind weniger wert als Jungen. Wenn es sich eine Familie also nicht leisten kann, viele Kinder durchzufüttern, sind es oft die Mädchen, die verheiratet werden, um einen Esser weniger zu haben. Ein großer Faktor ist auch die Bildung. Je weniger Bildung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mädchen vor dem 18. Geburtstag heiratet oder verheiratet wird. Aufgrund der niedrigen Stellung der Frau ist es natürlich bei Armut viel wahrscheinlicher, dass sie verheiratet wird. Das spielt ja auch aktuell in den Flüchtlingslagern eine Rolle.

Werden diese Ehen in den Flüchtlingslagern oder noch im Herkunftsland geschlossen?

Monika Michell von Terre des Femmes
Monika MichellBild: Uwe Steinert

Die "SOS Kinderdörfer" haben die Zahlen der minderjährigen Eheschließungen vor und nach dem Krieg in Syrien verglichen: Vor dem Krieg waren es noch 13 Prozent der Ehen und mittlerweile sind es über 50 Prozent. Ich gehe davon aus, dass viele in den Flüchtlingslagern geschlossen werden. In Syrien muss eigentlich ein Gericht entscheiden, ob das Mädchen die Geschlechtsreife erreicht hat und sie somit vor Vollendung des 17. Lebensjahres heiraten darf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in den Flüchtlingslagern eine Gerichtsbarkeit gibt, das ist dort oft eine kurze religiöse Zeremonie.

Welche psychischen und physischen Folgen hat eine Frühehe für junge Mädchen?

Eine frühe Ehe bedeutet in der Regel auch eine frühe Schwangerschaft und damit gravierende gesundheitliche Risiken für ein junges Mädchen. Das ist für sie auch ein abruptes Ende der Kindheit, in vielen Fällen bedeutet das eine krasse Überforderung. Bei einer Kinderehe ist das Risiko höher für das Mädchen, dass sie sexuelle und häusliche Gewalt erlebt, was zu Traumata führen kann. Sie sind in der Regel viel abhängiger von ihrem Ehemann. Aufgrund der Tatsache, dass ihnen die Kindheit verwehrt wird, können sie ihr Recht auf Bildung und auf eine normale Entwicklung nicht wahrnehmen - auch auf Spiel, was Kindern ja zusteht. Das führt oft zu Depressionen und viele Betroffene sind dann auch durchaus selbstmordgefährdet.

Junge Mädchen sind generell gefährdet, Opfer von sexuellen Übergriffen zu werden. Ist das ein zusätzliches Motiv von Eltern, ihre Töchter so früh zu verheiraten?

In vielen Herkunftsländern gibt es diese patriarchalischen Strukturen, wo die Ehre und das Ansehen der Familie vom Verhalten der Töchter abhängen. Das heißt, wenn ein Mädchen voreheliche sexuelle Kontakte hatte, ist das Ansehen der Familie beschädigt. Das hat gravierende Auswirkungen auf das soziale Umfeld und muss unbedingt verhindert werden. Durch eine frühe Heirat glaubt man das sicherzustellen. Ich glaube auch, dass die Schutzfunktion, so paradox es klingt, durchaus gegeben ist. Auf der Flucht sind Frauen natürlich in erster Linie von sexueller Gewalt bedroht, da kann es für viele Männer tatsächlich sein, dass sie sagen: "Oh, die Frau ist verheiratet, an die wage ich mich nicht ran." Das halte ich für möglich, ist aber keine Garantie.

Warum fordert Terre des Femmes pauschal, alle Ehen unter 18 nicht anzuerkennen?

Wir lehnen Ehen unter 18 Jahren ab, das ist eine Kindeswohlgefährdung. Trotzdem darf natürlich nicht gegen die Betroffenen gehandelt werden, wir verlangen keine Zwangsscheidung oder Trennung. Wenn sie 18 sind, dann sollen sie noch einmal bestätigen: Okay, ich möchte diese Ehe oder nicht. Uns ist wichtig, dass sie unter 18 als unverheiratet gelten. Minderjährige sind leichter zu beeinflussen. Es ist leichter, subtilen Druck auf sie auszuüben, sodass sie aus vermeintlicher Freiwilligkeit einer solchen Ehe zustimmen. Sie haben oft gar keine Vorstellung davon, was so eine Ehe wirklich für sie bedeutet. Sie sehen vielleicht wirklich nur die schöne Feier und das schöne Kleid. Deswegen sagen wir: Das Mädchen muss 18 sein, um eigenverantwortlich und im vollen Bewusstsein "ja" sagen zu können. Deswegen sprechen wir ja nicht von Zwangsheirat, sondern von Frühehen. Wobei unter diesen Frühehen auch eine Zwangsheirat sein kann. Aber auch solche, die einer Ehe zustimmen, weil sie denken, sie seien dann besser geschützt: Sollte das der Grund sein, eine Ehe einzugehen? Braucht sie den Schutz dann nicht eigentlich anders?

Monika Michell ist Referentin im Bereich "Gewalt im Namen der Ehre" bei der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes in Berlin. Seit 2010 beschäftigt sie sich mit Themen wie Frühehen, Zwangsverheiratungen und Ehrenmorde. Terre des Femmes setzt sich seit 25 Jahren für die Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen ein.

Das Interview führte Mariel Müller.