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Keine Angst vor Ungarns Bollwerk

Nemanja Rujevic, Subotica23. August 2015

Die ungarische Armee baut an der serbischen Grenze im Eiltempo einen Zaun, um Flüchtlingen, die von Süden kommen, den Weg zu versperren. Unüberwindbar scheint die Hürde nicht zu werden. Von Nemanja Rujević aus Subotica.

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Soldaten hinter Zaun an der serbisch-ungarischen Grenze - Foto: N. Rujevic/DW
Bild: DW/N. Rujević

"Money, money, money" singt die legendäre schwedische Band ABBA aus den Lautsprechern eines Militärfahrzeugs. Ungarische Soldaten witzeln und lachen. Und das, obwohl sie an der Grenze zu Serbien, unweit des Städtchens Ásotthalom, eine langweilige handwerkliche Aufgabe haben: Sie sollen einen Grenzzaun errichten. Einen drei Meter hohen Zaun, den die Regierung in Budapest zur obersten Priorität gemacht hat. Die Pfosten stehen schon, jetzt müssen sie das dazugehörige Gitter hochheben und befestigen. Die Männer in Tarnhosen sind bemüht, den Draht perfekt zu spannen und keine Schwachstellen zu lassen.

"Die Migranten überqueren die Grenze auf ganzer Länge", erklärt ein Soldat. Deswegen soll die "ungarische Mauer" im Eiltempo fertig gebaut werden, bis Ende des Monats. Der etwa ein Meter hohe Stacheldraht steht schon und ist messerscharf. An einer Stelle hat sich ein Baby-Handtuch verfangen, zurückgelassen von Flüchtlingen, als sie über den Stacheldraht geklettert sind. Ob der künftige Zaun sie stoppen kann? "Wir hoffen es", sagt der Soldat.

Warten auf "den Pakistaner"

Reportagereise serbisch-ungarischen Grenze Alte Ziegelfabrik in Subotica - Foto: N. Rujevic/DW
Dieses Jahr haben bereits zehntausende Flüchtlinge die serbisch-ungarische Grenze passiertBild: DW/N. Rujević

Zwanzig Kilometer weiter westlich haben sich Menschen versammelt, die den ungarischen Zaun auf den Prüfstand stellen wollen. Sie warten in einer alten Ziegelfabrik am Rande der nordserbischen Stadt Subotica. Drinnen sieht man Graffitis auf Arabisch und anderen Sprachen - eine Art Gästebuch. Auf einem Graffiti wird der syrische Präsident Baschar al-Assad heftig beschimpft.

Eine Wut, die auch Milad empfindet: "Jeder in Syrien weiß, dass Assad unschuldige Menschen tötet", sagt der 27-jährige Flüchtling aus Damaskus. "Die Situation bei uns ist sehr kompliziert, Militär und Milizen sind überall." Milad ist mit seinen Eltern auf der Flucht. Er ist IT-Spezialist und hofft, dass Deutschland Leute wie ihn braucht. Er weiß genau, in welche Stadt er will: nach Frankfurt, denn dort hat er Verwandte.

Milad und die anderen Flüchtlinge hier wissen, wie sie an den ungarischen Soldaten und dem unvollendeten Zaun vorbeikommen. Der junge Syrer erzählt schüchtern, dass er hier in der Ziegelfabrik auf einen Anruf wartet. "Der Pakistaner" wolle sich bald melden. "Er wird die Polizei bestechen", sagt Milad. Der mysteriöse Schleuser soll ein "altgedienter Flüchtling" sein, einer, der hier an der ungarischen Grenze geblieben ist, um jede Menge Geld zu verdienen.

Reportagereise serbisch-ungarischen Grenze Alte Ziegelfabrik in Subotica - Foto: N. Rujevic/DW
Gespanntes Warten: Wann meldet sich der Schleuser?Bild: DW/N. Rujević

Blühendes Geschäft

Milad und seine Eltern werden insgesamt rund 4500 Euro für den Transfer nach Deutschland bezahlen. Wenn es klappt. Für Migranten, die nicht so viel Geld haben, gibt es auch billigere Angebote: Für 50 oder 100 Euro werden sie zum Beispiel zu undichten Stellen der Grenze geführt und dort sich selbst überlassen. Angeblich schafft es allein "der Pakistaner", mehr als zwanzig Leute pro Tag über die Grenze zu bringen. Selbstverständlich zeigt er sich aber nicht, solange Journalisten in der Ziegelfabrik da sind. Deswegen bitten uns einige Flüchtlinge zu gehen.

Nicht nur die Schleuser profitieren von der Situation der Flüchtlinge, sondern auch serbische Verkehrspolizisten. Die sind bekannt dafür, dass sie für 20 Euro Schmiergeld oft bereit sind, beide Augen zuzudrücken - etwa bei Trunkenheit am Steuer. Jetzt haben sie ein noch ertragreicheres Geschäft entdeckt: Sie stoppen die nach Subotica fahrenden Taxen und kassieren um die hundert Euro pro Kopf von den eingeschüchterten Flüchtlingen. "Das ist grausam"", erzählt ein Taxifahrer, der selbst der Zeuge solcher Szenen war. "Arme Menschen gehen in die Ungewissheit, und dann werden sie auch noch von der Polizei hier gequält."

Und die Taxifahrer müssen befürchten, als Schlepper angezeigt zu werden. In diesem Fall droht ihnen eine Gefängnisstrafe, außerdem wird dannn ihr Auto sofort beschlagnahmt. Allein in diesem Jahr wurden über 1000 Fahrzeuge auf diese Weise enteignet, berichtet die serbische Wochenzeitung VREME. "Wo ist da die Logik?", fragt der Taxifahrer. "Diese Leute wollen nur weiter nach Ungarn. Warum sollte man ihnen nicht den Weg erleichtern?"

Karte Grenzzaun zwischen Serbien und Ungarn - Copyright: DW
Der Zaun soll die 175 Kilometer lange ungarisch-serbische Grenze abriegeln

Barmherziger Samariter

Die Flüchtlinge treffen hier aber auch hilfsbereite Einheimische. Wenn Tibor Varga aus seinem grauen Kleinlaster aussteigt, wissen sie, dass er ihnen Essen bringt. Den evangelischen Priester erkennen sie an seinen breiten Schultern, seinem Dreitagebart und seiner Tarnhose. Schon vier Jahre lang - seit Beginn des Arabischen Frühlings - bringt er Flüchtlingen täglich Brot, Eier und Hygieneartikel. "Diese Menschen sind emotional erschüttert, weil sich keiner für ihre Probleme interessiert", sagt Varga, der für die Hilfsorganisation Osteuropa Mission unterwegs ist. "Da helfen ein Händedruck, ein breites Lächeln und eine sanfte Stimme oft mehr als tausende Euro."

Dass die Populisten im Bezug auf der Flüchtlingswelle europaweit vor einem "Sicherheitsrisiko" warnen, kann er nicht verstehen. "Selbst wenn ich ganz genau wüsste, dass einer ein Terrorist ist - was soll ich machen, wenn er Hunger und Durst hat? Außerdem bin ich hier schon tausenden Menschen begegnet. Und bisher hat mich noch keiner getötet."

Frage der Moral

Varga erzählt gerne biblische Geschichten, wie die vom barmherzigen Samariter. Über das Zögern der EU bei der Aufnahme von Flüchtlingen sagt er: "Es ist ein bisschen wie im Mittelalter: Der König hat ein Burg, und die Armen leben rund herum. In gefährlichen Zeiten möchten sie auch rein und der König muss eine Entscheidung treffen. Und das ist eine Frage der Moral."

Tibor Varga verteilt in der alten Ziegelfabrik in Subotica Essen an Flüchtlinge - Foto: N. Rujevic/DW
Tibor Varga verteilt regelmäßig Essen an die Flüchtlinge in SuboticaBild: DW/N. Rujević

Der Priester bestätigt, dass der ungarische Zaun ein Thema unter den Flüchtlingen ist. Vor ein bisschen Draht hätten sie aber keine Angst. "Mit Blick auf die anderen Zäune weltweit kann man sagen, dass diese Menschen sehr entschlossen sind durchzukommen. Sie waren in ihrem Leben schon mit größeren Problemen konfrontiert."

Bisher hat sich der Stacheldraht zumindest gegen Rotwild als effizient erwiesen. Und auch die Eisenwarenhändler in Subotica spüren die Wirkung des Zauns: Ihre Drahtscheren und Seitenschneider sind dieser Tage ein Renner.