Bohren in Sibiriens Kälte
15. Dezember 2014Die Feuer auf den Gasfeldern im hohen Norden Russlands leuchten fast stärker als die Wintersonne, die sich in der dunklen Jahreszeit kaum über den Horizont erhebt. Die von der
Zivilisation abgeschotteten Gasfelder nahe der Stadt Nowy Urengoi versinken dank des leuchtenden Schnees nicht ganz in der Dunkelheit. Überall in der weiten Landschaft stehen Bohrtürme und Anlagen zur Gasaufbereitung. In Nowy Urengoi, der Gashauptstadt des Riesenreichs, fördern Russen gemeinsam mit Deutschen "Wärme für Europa" - fernab der politischen Eiszeit zwischen Berlin und Moskau.
In der Tundra mit ihrem Permafrostboden mag sich so recht niemand ausmalen, wohin die westliche Sanktionspolitik gegen Russland noch führen wird. "Wir befassen uns nicht mit Politik", sagt Oleg Ossipowitsch. Er ist Generaldirektor beim Gasproduzenten Achimgaz, einem deutsch-russischen Gemeinschaftsunternehmen. "Wir haben hier andere Probleme und viele Aufgaben, die wir gemeinsam erfüllen müssen", sagt Ossipowitsch. Er meint auch den klirrend kalten Winter.
Sinken die Temperaturen hier unter minus 40 Grad Celsius, droht Stillstand. Nicht nur Kinder können sich dann über Schulfrei freuen, weil die Schulbusse sicherheitshalber in den Depots bleiben. Auch auf den Gasfeldern ist die Gefahr groß, dass die Technik bei zu großer Kälte versagt.
BASF und Gazprom
An diesem klaren Dezembertag laufen die Arbeiten bei minus 38 Grad Celsius. Knapp eine Stunde dauert die Fahrt von Nowy Urengoi zu den bewachten Produktionsanlagen. Für Auswärtige ist die gesamte Urengoi-Region nur mit einer Einreisegenehmigung zugänglich, der Zutritt zum Gasfeld von Achimgaz selbst mit einem Sonderausweis.
An dem Unternehmen ist auf deutscher Seite die Wintershall Holding GmbH aus Kassel zur Hälfte beteiligt. Die BASF-Tochter ist Deutschlands größter international tätiger Erdgas- und Erdölförderer. Auf russischer Seite führt Gazprom Dobycha Urengoi die Geschäfte, eine Tochter von Russlands Energieriesen Gazprom und größter Gasproduzent der Welt. Auch über eine Städtepartnerschaft sind Kassel und der Ort nahe dem nördlichen Polarkreis eng miteinander verbunden.
Das Leben im rauen Klima, wo jeder auf jeden angewiesen ist, lässt kaum Platz für Feindschaften. An der Bohranlage 27 in den Weiten des Urengoi-Feldes leben Arbeiter aus der Ukraine, aber auch aus Südamerika in einer Containersiedlung mit Gemeinschaftsräumen und
Banja, einer Dampfsauna. "Das Leben hier ist hart, aber man gewöhnt sich daran. In der Containersiedlung entsteht schon so etwas wie eine familiäre Atmosphäre", erzählt der Wachmann Abdullah. Der 46-Jährige arbeitet in der Tundra, um seine Familie mit vier Kindern in der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Usbekistan zu versorgen. 30.000 Rubel (rund 430 Euro) bekommt er im Monat - viel Geld in seiner Heimat.
Die anderen - er meint die russischen Kollegen - hätten aber bessere Jobs mit höheren Einkommen, sagt Abdullah. Dass sie alle nun wegen des rasanten Rubel-Verfalls immer weniger Dollar kaufen können, drückt freilich gerade die Stimmung in der Kommune.
In fünf Jahren Fördermenge vervierfachen
Rund 320 Menschen arbeiten bei Achimgaz. An seinen deutschen Kollegen schätzt Unternehmenschef Ossipowitsch vor allem, dass sie technische Ausrüstung mitbringen, im Management und in der Buchhaltung aktiv sind. Noch gebe es keine Auswirkungen der auch von Deutschland im Ukraine-Konflikt mit vorangetriebenen Sanktionen gegen Russland, sagt der Manager. Trotz der politisch schwierigen Zeiten sei die Zusammenarbeit "freundschaftlich", meint auch sein Kollege Ingo Neubert.
Der Physiker ist seit 2011 Vizechef bei Achimgaz. Aus 4000 Metern Tiefe - einer Bodenschicht mit dem Namen Atschimow-Formation - fördert das Unternehmen Gas und Kondensat.
"Das Bohren ist nicht trivial", erklärt Neubert am Bohrturm 27. Eine halbe Million Euro pro Tag kosten die Arbeiten in diesem Boden, der gepachtet ist. Im Winter, aber auch im Sommer, wenn der Grund sumpfig ist, kommt der Aufbau der Infrastruktur schwer voran. Nur eineinhalb bis zwei Stunden am Tag scheint die Sonne im Winter - anders als in den weißen Nächten im Sommer, wenn sie gar nicht untergeht.
37 Bohrstellen hat Achimgaz aktuell in Betrieb. Bis 2019 sollen es 113 sein mit einer jährlichen Fördermenge von rund acht Milliarden Kubikmeter Gas, etwa viermal so viel wie jetzt. Auch andere Gasproduzenten sind im westsibirischen Urengoi, einem der größten Erdgasfelder der Welt, zugange - eine Welt für Industrieromantiker mit unzähligen Rohren, Kompressoren und Ventilen.
Über die Ferngasleitung fließt die Energie nach Europa. Als Teilhaber von Achimgaz hofft Wintershall, dass die Arbeit auch in politisch schwierigen Zeiten ungehindert weiter geht. "Eine Gasversorgung Deutschlands und Europas ohne Russland ist nicht möglich", sagt Wintershall-Vorstandsmitglied Mario Mehren. Das Land habe ein Drittel aller Gasreserven der Welt und liefere den Rohstoff wegen der Nähe zu Europa - wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges - zuverlässig und zu bezahlbaren Kosten.
Ohrfeige für Wintershall
Wenn Europa sich abwende von Russland, müsse Flüssiggas oder Energie aus anderen Quellen zu höheren Kosten importiert werden, warnt Mehren. Angesichts der niedrigen Gaspreise in den USA sieht er die Gefahr, dass Europas Industrie so nicht wettbewerbsfähig bliebe.
Rund 35 Prozent des Gases in Deutschland stammen aus russischen Quellen. Wintershall hat Russland und Norwegen zu seinen Kernregionen erkoren und verfolgt auch deshalb das abgekühlte Verhältnis zwischen Berlin und Moskau zunehmend mit Sorge. Die Gasförderer aus Kassel erwischte es Anfang Dezember kalt, als Gazprom sein Pipeline-Projekt South Stream plötzlich aufgab. Wintershall ist zu 15 Prozent daran beteiligt. Die Hoffnung war groß, dass die Leitung wie die Ostseepipeline Nord Stream satte Profite in die Kassen spült.
Die Russen aber orientieren sich angesichts der Probleme mit der Europäischen Union immer mehr auf andere Märkte: auf Asien etwa und dort vor allem auf das energiehungrige China. Im Gazprom-Museum von Nowy Urengoi zeigt Maria Tuguschewa auf einer wandgroßen Landkarte, wo die Leitungen des Monopolisten jetzt und künftig verlaufen. Wie ein großes Blutkreislaufsystem durchziehen sie Europa und Asien. Tuguschewa schwärmt vom gigantischen Pipeline-Projekt Sila Sibiri, der "Kraft Sibiriens". Die Leitung reicht bis in den äußersten Osten Russlands.
Eingetragen ist auch die Abzweigung nach China. Mit ihrem Zeigestab erinnert Tuguschewa vor der Landkarte mit den blauen Gasleitungen an einen Feldherrn, der Eroberungszüge erläutert.
Das ultramoderne Gazprom-Museum zeigt auch 3D-Filme zur Gasgewinnung aus schwer zugänglichen Bodenformationen mit dichtem Gestein, starkem Druck und hohen Temperaturen.
Die Exponate erinnern an die 40-jährige Geschichte der zu Sowjetzeiten aus dem Permafrost gestampften Siedlung Nowy Urengoi. 1966 hatten Geologen das Gasfeld entdeckt.
Fotos in der Ausstellung zeigen das Leben der Ureinwohner hier im Autonomen Bezirk der Jamal-Nenzen. Die Naturvölker der Nenzen, Chanten und Selkupen ziehen fernab der Siedlungen und Bohranlagen mit ihren Rentierherden und ihren Tschum-Zelten durch die Tundra.
Im rauhen Klima zeigt sich das Wesen
In Nowy Urengoi mit seinen vielen Hochhäusern, der grellen Leuchtreklame und den Einkaufszentren erinnert kaum noch etwas an das Nomadenleben. Etwa 120.000 Menschen leben heute in der Stadt. Die russisch-orthodoxe Kirche hat ein großes Gotteshaus bauen lassen. Und die Stadt wächst weiter mit dem Ausbau der Gasförderung.
Allein Achimgaz will in den kommenden Jahren rund 200 Milliarden Kubikmeter Gas vom Urengoi-Feld fördern, ebenso etwa 40 Millionen Tonnen Gaskondensat.
In seinem Büro in einem Hochhaus sieht Vizechef Neubert der Zukunft optimistisch entgegen. An den achtmonatigen Winter Tausende Kilometer von der Heimat entfernt hat er sich gewöhnt. Vier Stunden Zeitunterschied sind es zu Deutschland. Allein bis nach Moskau sind es rund 3500 Kilometer und dreieinhalb Stunden Flug. Was Neubert hier hält? "Unter den schwierigen Bedingungen öffnet sich der Mensch und zeigt, wie er wirklich ist", sagt er. In Urengoi habe er die schönste Zeit seines Lebens.