1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Raum für Zeitgenössisches im Leipziger Westen

Manuela Heim14. Januar 2014

Zwischen einer stillgelegten Spinnerei und dem grünen Stadtgürtel hat sich im Westen Leipzigs ein Zentrum für alternatives Leben und zeitgenössische Kunst entwickelt. Ein Streifzug.

https://p.dw.com/p/1Amrt
Ausstellung in der Leipziger Spinnerei Kunstwerk von Rudolpho Parigio
Bild: picture-alliance/dpa

"Kunst und Liebe kann man nicht kaufen." Viele Jahre prangte dieser Spruch an einer der alten Ziegelmauern der Spinnerei, inzwischen ist er verblasst. Weit draußen im Westen von Leipzig liegt das sechs Hektar große Gelände, auf dem einst 4000 Arbeiter Baumwolle zu Garn verspannen. Nur wenige Jahre nach dem Fall der Mauer standen die Maschinen still. Seitdem scheint auch die Zeit seltsam stehengeblieben zu sein in dem dürftig sanierten Ensemble aus Hallen und Türmen: Staub auf zerbrochenen Scheiben, Werksuhren, die nicht mehr ticken, rostende Geländer, Unkraut zwischen ungenutzten Schienen. Doch noch etwas anderes wuchert hier: Die Kunst, käuflich und unverkäuflich. In Hallen, an Wänden und auf Dächern verbindet sie sich aufs Angenehmste oder Kratzigste mit den alten Zweckbauten.

Die Spinnerei ist eine der Geburtsstätten jener Leipziger Westkultur, die - benannt nach der Lage des Viertels - das Grau vergessener Industriestätten und Straßenzüge bunt gemacht hat. Schon wenige Jahre nach der Wende wurden die Industriehallen zur Herberge für Künstler, Kunsthändler und Kunsthandwerker. Inzwischen gehen Bilder von Malern der Neuen Leipziger Schule für viel Geld über die Ladentische. "Für einen Neo Rauch muss man schon so eine halbe Million rechnen", sagt eine Mitarbeiterin der Galerie Eigen + Art. Sparsam verteilt hängen dort die großformatigen Werke von Leipzigs Star-Künstler an weißgetünchten Wänden. Zu den jährlichen Rundgängen kommen Tausende finanzkräftige Kunstliebhaber aus dem In- und Ausland aufs Spinnereigelände. Ein Atelier zu bekommen, ist für Künstler mit den Jahren fast utopisch geworden. Die freie Kulturszene ist deshalb längst weitergezogen, den Rest des Westens zu erobern, allem voran die Karl-Heine-Straße.

Maler Neo Rauch
Der Maler Neo Rauch bei einer Ausstellungseröffnung in MünchenBild: AP

Am Ufer schaukelt die Weltfrieden

Noch vor wenigen Jahren gab es kaum einen Grund, der Karl-Heine-Straße einen Besuch abzustatten. Die schmutzigen Scheiben unvermieteter Läden glotzten trübe auf den grauen Straßenzug. Links und rechts verfielen historische Gründerzeitbauten. Seit einigen Jahren aber haben sich die drei Kilometer der Straße zwischen Spinnerei im Westen und dem Park im Osten zur Magistrale der Westkultur gemausert, die unsanierten Häuser sind selten geworden.

Gleich am Anfang steht noch eins, direkt gegenüber vom alten Plagwitzer Bahnhof. "Wächterhaus" steht auf dem großen gelben Banner. Eine Handvoll solcher Projekthäuser gibt es im Leipziger Westen. Statt sie verfallen zu lassen, gestatten die Eigentümer Künstlern, Musikern, Aktivisten, es kreativ zu nutzen. Sie gehörten zu den ersten, die dem totgeglaubten Straßenzug wieder Leben einhauchten.

Einen guten Kilometer weiter, am Karl-Heine-Kanal. Rechts schaukelt die fast 70 Jahre alte MS Weltfrieden am Ufer, im Sommer tuckert sie sechs Mal am Tag durch die Wasserlandschaft des Leipziger Westen. Der Unternehmer Karl Heine, Namensgeber von Kanal und Straße, träumte im 19. Jahrhundert davon, dass "sein" Westen per Schiff den Anschluss an die Welt findet - oder zumindest ans Netz der deutschen Wasserwege. Noch heute fehlen dem Stadtteil ein paar Meter zum Durchstoß, nicht aber die Visionen.

Kanalrundfahrt mit der MS Weltfrieden in Leipzig
Mit dem Motorschiff MS Weltfrieden auf Kanalrundfahrt durch den Leipziger WestenBild: cc-by-nc-sa3.0/guillermogg

Die Liebe leuchtet in Neonschrift

Ein paar Schritte weiter erhebt sich rechts das Westwerk. Architektonisch weniger reizvoll als die Spinnerei, aber seit einigen Jahren ein Kernstück der Westkultur. Im 19. Jahrhundert war hier ein Depot der Leipziger Pferdeeisenbahn, zuletzt wurden Armaturen hergestellt. Im Pferdehaus wird inzwischen im Halbdunkel Tischtennis gespielt, als wäre das eine Untergrund-Sportart. Oder getanzt bis in die Morgenstunden, meist zu Elektrobeat.

Wieder draußen angelangt, offenbart sich in der Nacht - etwas unerwartet, dafür kostenlos und ganz und gar unverkäuflich - die Liebe. In roter Neonschrift leuchtet sie von der Fassade des Westwerks. Sieben "hohe Worte" hat der Kunstverein Westbesuch entlang der Karl-Heine-Straße platziert. Auch den "Trost" an einer alten Kirche oder die "Sorge" über einer Kneipe.

Westwerk in Leipzig
Werkstatt, Galerie, Club - das Westwerk ist vielesBild: picture-alliance/dpa

Weiter geht es auf derselben Straßenseite, auf einen Abstecher ins Dr. Seltsam. Nicht größer als ein Wohnzimmer ist das Lädchen eigentlich eine Fahrradwerkstatt. Zwei Stühle sind noch frei und wenn es schon mal nach 19 Uhr ist, wird zusammengerückt an den paar Tischen zwischen den Zweirädern. Es riecht nach Schmiere und der Zigarettenrauch ist zum Schneiden, dafür gibt es kühles Bier und mit etwas Glück feinste elektronische Experimentalmusik.

Karl Marx zwischen DDR-Konserven

Keine 20 Meter sind es mehr bis zur Schaubühne Lindenfels, einer weiteren Pionierin der Westkultur. Auch hier steht die Zeit still: Die riesige Uhr auf dem Gründerzeitbau hat keine Zeiger, eignet sich aber hervorragend als Erkennungsmerkmal. Auf der Treppe vor dem Eingang sitzen wie immer zu viele Leute, drinnen zeigt ein kleines Kino Arthouse- und Dokumentarfilme. Hinter zwei hölzernen Flügeltüren und einem dicken Vorhang verbirgt die Schaubühne ihr Herzstück: Einen Ballsaal, von dem der Charme der Jahrhundertwende blättert. "Wer kommt, muss tanzen" steht auf einem Plakat am Eingang. Regelmäßig wird hier zu Theater, Lesungen und Musik geladen.

Außenansicht des Leipziger Theaters Schaubühne Lindenfels
Schaubühne Lindenfels: Ein Theater im Leipziger Westen mit historischem BallsaalBild: picture-alliance/dpa

An der nächsten Straßenecke geht es hinein in die Volksbuchhandlung, in der neben Büchern und Platten auch Wählscheibentelefone und ungeöffnete DDR-Konserven in den Regalen stehen. Auf die Frage nach dem "Kapital" von Karl Marx verschwindet der syrisch-deutsche Inhaber im Ladeninneren und kommt mit einer kommentierten DDR-Ausgabe zurück. Für derartige Schätze trifft sich übrigens die halbe Stadt mehrmals im Jahr beim sogenannten Westpaket und Westbesuch. Dann wird die ganze Karl-Heine-Straße ein Straßenfest mit Kunst- und Trödelmarkt.

Noch einmal 500 Meter in Richtung Innenstadt und der Asphalt weicht Leipzigs grünem Gürtel. Rechts der Clara-Zetkin-Park, links der Palmengarten, der allerdings keine Palmen mehr beherbergt. Verwitterte Engelsstatuen blicken verwundert von oben, kleine Brücken spannen sich über die Seitenärmchen des Kanals, in einem der alten Pavillons knutscht ausdauernd ein Pärchen. "Kunst und Liebe kann man nicht kaufen" - das könnte auch hier irgendwo stehen.