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Politik

Nehmt die Corona-Demonstranten ernst!

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter
3. September 2020

In Deutschland missbrauchen Rechtsextreme friedliche Demos gegen die Corona-Maßnahmen. Die Aufmerksamkeit von Politik und Medien sollte aber vor allem denen gelten, die legitime Kritik üben, meint Jan D. Walter.

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Deutschland Protest gegen Corona-Maßnahmen an der Siegessäule in Berli
Nicht allein Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker - auch viele ganz normale Menschen demonstrierten in BerlinBild: DW/D. Vachedin

Man muss weder rechts noch extrem sein, um die Angemessenheit der Corona-Maßnahmen anzuzweifeln. Man muss eine COVID-19-Erkrankung dafür auch nicht als stärkere Erkältung abtun. Was man aber tun sollte, ist, einen Blick auf die Kollateralschäden zu werfen: ausgefallener Schulunterricht ist da noch eines der kleineren Probleme.

Wer weiß schon so genau, wie viel Lebensqualität oder auch Lebenszeit durch all die verschobenen Operationen und Vorsorgeuntersuchungen langfristig verloren geht? Wie sehr Menschen unter häuslichen Konflikten oder auch ihrer Einsamkeit leiden? Ganz abgesehen von Verunsicherung und Angst, die auch Menschen erfahren haben dürften, deren wirtschaftliche Existenz nicht direkt, sondern nur abstrakt bedroht ist, weil sich eine dramatische Inflation ankündigt, weil die Geldmenge wächst, während die Weltwirtschaftsleistung schrumpft.

Wer kapert wen?

Die deutschen Corona-Maßnahmen - so moderat sie im Vergleich zu anderen Ländern sein mögen - haben ganze Branchen an den Rand des Bankrotts gebracht. Einzelne Unternehmen sowieso. Nicht nur die hiervon direkt Betroffenen dürfen den Pflicht- und Verbotskatalog deshalb jeden Tag in Frage stellen. Das steht jedem differenziert denkenden Menschen zu - ja, er sollte es als Pflicht ansehen.

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DW-Redakteur Jan D. Walter

Dennoch konzentrieren sich Medien und Politiker in ihren Berichten und Kommentaren über die Demonstrationen vom vergangenen Samstag auf die Handvoll Rechtsextremen, die sich vor dem Reichstag in Szene gesetzt haben, anstatt klarzustellen, wer hier wessen Kundgebung gekapert hat. Damit spielen sie nicht nur Nazis und QAnon-Anhänger in die Karten, weil sie ihnen mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, als ihnen - schon ihrer Anzahl wegen - gebührt. Sie spielen auch die Ernsthaftigkeit des Anliegens der Organisatoren herunter.

Und unter denen befinden sich eben nicht nur die üblichen "Hauptsache-dagegen"-Kandidaten, die sich einen schönen Tag im Park machen wollen, wie es sich in vielen deutschen Qualitätsmedien liest. Auch angesehene Virologen, Wirtschaftsexperten und Juristen bezweifeln längst Sinn, Ausmaß und Rechtmäßigkeit der geltenden Maßnahmen.

Irrtümer eingestehen

Dass die Bundesregierung in der Anfangszeit der Pandemie lieber zu viel als zu wenig gemacht hat, ist verständlich - politisch und menschlich. Schließlich wusste niemand so recht, was da auf uns zukam. Und wer will schon verantwortlich gemacht werden für Tausende von Toten, die man womöglich hätte vermeiden können?

Mittlerweile ist aber klar, dass der bisherige Höchststand der Infektionskurve bereits am 16. März erfolgte - also einige Tage vor der Einführung der erweiterten Corona-Maßnahmen und nicht, wie es logisch erscheint, ein bis zwei Wochen danach.

Aus Fehlern lernen

Dass die Bundesregierung so gesehen überreagiert hat, konnte am 22. März noch niemand wissen. Aber jetzt weiß man es. Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann räumte das in einer Talkshow des 'Zweiten Deutschen Fernsehens' indirekt ein: "Heute würde Politik einen Lockdown wie im März nicht noch einmal so machen", sagt er, und der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit nickte dazu bekräftigend.

Es ist schön, dass Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Demonstrationsrecht als demokratische Institution betont hat. Aber das genügt nicht. Er hätte den Demonstranten für das offene Feedback danken sollen. Um der Demokratie willen müssen Politik und Medien endlich beginnen, abweichende Stimmen ernst zu nehmen.

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Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.