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Flüchtlingskinder im Mittelpunkt

Janine Albrecht4. Mai 2016

Sie brauchten keinen Asylantrag und durften sofort auf den Arbeitsmarkt. Vor drei Jahren hat Deutschland mehrere Tausend Syrer als Kontingentflüchtlinge aufgenommen. Wie geht es ihnen heute? Janine Albrecht, Hamburg.

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Symbolbild Kontingentflüchtlinge (Foto: Albrecht/DW)
Bild: DW/J. Albrecht

Auf dem Couchtisch steht ein kleiner Teller mit Gebäck aus Syrien. Ein Freund hat die Kekse aus der Heimat geschickt. Im Fernsehen läuft ein syrischer Sender. Auf dem Sofa davor sitzt Zakiah Bshara. Mit 71 Jahren hat sie ihre Heimat verlassen und ist gemeinsam mit ihrem Mann und dem Sohn zur Tochter nach Deutschland geflohen. Das ist jetzt bald zwei Jahre her, heute lebt sie in Kiel.

Porträt Awo-Mitarbeiterin Günay Turan (Foto: Albrecht/DW)
Hilfe für Flüchtlinge: Günay Turan von der AWO in KielBild: DW/J. Albrecht

Arwa Bchara, die Tochter, ist 35 Jahre alt. Sie hat es in Syrien nicht mehr ausgehalten. Jeden Tag musste sie auf dem Weg ins Büro in Damaskus an einem Dorf vorbeifahren, das Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staat" hielten. Eines Tages dann schossen die Extremisten auf sie. "Frauen dürfen in deren Augen kein Auto fahren", erzählt Arwa Bchara. Sie habe umgedreht, sei nach Hause gefahren und von diesem Tag an nicht mehr zur Arbeit gefahren. Die Angst, was passieren würde, wenn der IS auch in ihr Dorf käme, habe sie nicht mehr losgelassen. Arwa Bchara floh wie viele Syrer zunächst in den Libanon, dort blieb sie ein Jahr. "Ich hatte einen guten Job bei einer großen Versicherung, aber meine Eltern und mein behinderter Bruder hätten in Beirut nicht leben können", sagt sie. Sie habe sich deshalb beim UN-Flüchtlingshilfswerk gemeldet, um als Kontingentflüchtling nach Deutschland zu können. Fast genau ein Jahr nachdem die Bundesregierung beschlossen hatte, 5.000 syrische Flüchtlinge aus dem Libanon auszufliegen, bekommt auch Arwa Bchara im März 2014 ein Ticket nach Deutschland.

Ohne Sprachkurs zum Sprachtest

In der norddeutschen Stadt Kiel soll ihr neues Leben beginnen. Aber sie kann sich zunächst nicht auf den Sprachkurs konzentrieren. Erst will sie ihre Familie nach Deutschland holen. Das beobachtet Günay Turan bei vielen Flüchtlingen. "Die Gedanken sind bei den zurückgelassenen Familien", sagt die Flüchtlingsberaterin der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Kiel. "Die Menschen müssen hier erst einmal in Ruhe ankommen." Aber im Grunde seien alle bemüht, die Sprache zu lernen.

"Ich bin eigentlich gar nicht zum Sprachkurs gegangen, ich hatte immer so viel zu tun", erklärt Arwa Bchara, in holperndem, aber doch sehr verständlichem Deutsch. Sie habe sich die Sprache selber beigebracht und durch Freunde und deutsches Fernsehen gelernt. So gut, dass sie vor kurzem ihr B1-Zertifikat für Deutsch bestanden hat. Dagegen kann ihre Mutter bisher nur ein paar Wörter der fremden Sprache. Es reicht zumindest für den Einkauf im Supermarkt. "Ich möchte gerne einen Sprachkurs machen", sagt die 73-Jährige auf Arabisch. Auch Zakiah Bshara brauchte Zeit, um sich in Deutschland einzuleben. Dann kam vor einem halben Jahr die Trauer um den Ehemann. Er war auf dem Weg zur Kirche tot an einer Bushaltestelle zusammengebrochen. Ganz allein ist die Ruheständlerin aber auch in Deutschland nicht. Sie hat Kontakt zu zwei Nachbarinnen, eine stammt aus dem Irak, die andere ist Deutsche. "Wenn die deutsche Nachbarin vorbeikommt, sitzen die beiden zusammen und trinken Kaffee und schauen in den Fernseher", erzählt ihre Tochter. Miteinander reden können sie nicht.

Migrationsberaterin Günay Turan geht davon aus, dass wohl erst ein Großteil der zweiten, dritten oder sogar erst der vierten Generation den Sprung in den Arbeitsmarkt schafft. Daher sei es wichtig, sich besonders um die Bildung und Förderung der Kinder und Jugendlichen zu kümmern. “Hier darf man keine Zeit verlieren, wenn wir die Menschen hier integrieren wollen.“

Langer Weg zum Arbeitsmarkt

Arwa Bchara könnte mit Mitte 30 den Weg in den ersten Arbeitsmarkt schaffen. Sie ist eine stolze Frau, ihre großen braunen Augen funkeln, wenn sie von ihrem früheren Leben in Syrien erzählt. Von der eigenen kleinen Consulting-Firma, die sie dort nach dem Jurastudium aufgebaut hatte. Gerne würde Bchara wieder in diesem Bereich arbeiten. Aber sie weiß auch, dass das schwer ist. "Mit einem Jurastudium können sie hier erst einmal nichts anfangen. Bei technischen Berufen sieht es schon besser aus, zum Beispiel als Ingenieur oder Handwerker“, bestätigt auch Günay Turan. Aber selbst nach erfolgreich absolvierten Sprachkursen, so Turan, gebe es weitere Hürden wie zum Beispiel die Anerkennung der schulischen und beruflichen Abschlüsse oder die Frage nach ergänzenden Schulungen.“

Zakiah Bshara sitzt auf dem Sofa und der Fernseher läuft. (Foto: Albrecht/DW)
Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Die Integration in Deutschland ist für viele Flüchtlinge mühsamBild: DW/J. Albrecht

Arwa Bchara wird bald ein Praktikum machen, um so auch ihre Deutschkenntnisse zu vertiefen. Günay Turan bietet ihr die Möglichkeit, bei der AWO mitzuarbeiten, als Dolmetscherin für Beratungsgespräche. "Es haben uns schon einige Migranten später als Übersetzer geholfen, die vorher selbst zur Beratung kamen." Für Arwa Bchara ist es ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem Job. Auch ein Studium in internationalem Recht hat sie ins Auge gefasst. Nach zwei Jahren in Deutschland, so scheint es, hat sie den Kopf frei für ihren beruflichen Weg. Auch wenn der Krieg in Syrien sie weiter begleitet, weil dort immer noch viele Freunde und Verwandte leben. Arwa Bchara setzt sich zu ihrer Mutter und schaut auf den Fernseher, der gerade Bilder aus der vollkommen zerstörten Stadt Aleppo zeigt. "Wissen Sie, was für ein schönes Land Syrien vor dem Krieg war?"

Mutter und Tochter sind sich einig: Sie sind zufrieden in Deutschland. Zakiah Bshara möchte nach dem Krieg wieder zurück nach Syrien. "Das gilt für meine Mutter", fügt Arwa Bchara schnell hinzu. "Ich will hier bleiben und Deutschland etwas für die Hilfe zurückgeben."