Feuilletonist Joachim Kaiser ist tot
11. Mai 2017"Kritik trifft das Ego viel mehr als Lob", sagte Joachim Kaiser mal der Deutschen Presse-Agentur. Auch wenn es dem Wesen Kaisers widersprach andere Menschen wirklich zu verletzen, wusste er, dass eine übermäßige Vorsicht in seiner Zunft auch schnell langweilig wirken kann. Die Wahrheit in der Kunst komme nur durch Kritik, Streit und Diskussion zum Vorschein. Er war überzeugt: "Nur wer liebt, darf kritisieren".
Kritik als "künstlerische Anstrengung"
"Er war jahrzehntelang der wohl einflussreichste deutsche Musikkritiker und eine prägende Stimme der Süddeutschen Zeitung", würdigte ihn das Blatt in einem ausführlichen Nachruf auf seiner Internetseite. Er habe die Zeitung, ja das ganze Land geprägt. Am Donnerstag ist Kaiser nach längerer Krankheit im Alter von 88 Jahren in München gestorben.
"Speere werfen und die Götter ehren" war sein von Schiller und dem Kritiker-Vorbild Alfred Kerr (1867-1948) entlehntes Berufsmotto. 1959 wurde Kaiser Teil der Kulturredaktion der "Süddeutschen Zeitung", bis 1977 war er Feuilleton-Chef. Für seine Arbeit als Musik-, Theater- und Literaturkritiker erhielt er verschiedene Auszeichnungen.
"Die Kunst kann den Horizont erweitern und auch sensibel machen. Und man hat dadurch vielleicht auch mehr Fähigkeiten, den Reichtum an Glück und Empfindsamkeiten aufzunehmen." Für Kaiser war die Kunst zentral: Vor allem auch, um den "Akku unserer Seele" wieder aufzuladen, den so viele Menschen seiner Meinung nach im Alltag schnell vernachlässigten und Kultur leichtsinnigerweise als "Luxus" betrachteten.
Begeisterung für klassische Musik
Kaiser war ein Enthusias;, am meisten liebte er die großen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts: Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner und Wagner. Hinreißende Aufführungen ihrer Werke konnte er ebenso hinreißend beschreiben. Mit vielen großen Musikern, Schriftstellern und Theaterleuten war er befreundet. Er begegnete Autoren und Künstlern wie Leonard Bernstein, Günter Grass, Max Frisch und Artur Rubinstein. Was Kaiser liebte, wollte er auch weitergeben, in seinen vielen tausend Kritiken, in Büchern und Rundfunksendungen.
Kaiser wurde im Dezember 1928 als Sohn eines Landarztes im ostpreußischen Milken geboren, ging in Hamburg zur Schule, studierte in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Seine journalistische Laufbahn begann 1951, er schrieb für die angesehenen "Frankfurter Hefte", für die Literaturredaktion des Hessischen Rundfunks und studierte bei Theodor Adorno an der Frankfurter Universität. 1953 stieß er als Kritiker zur legendären Schriftsteller-Vereinigung "Gruppe 47".
Mut zum Pathos
1977 gab er den Posten des Feuilleton-Chefs bei der "Süddeutschen" auf und lehrte als Professor an der Hochschule für Musik und darstellende Künste in Stuttgart. Kaiser selbst sah sich als "der letzte Mohikaner" seiner Zunft, jedenfalls gab er seinen Lebenserinnerungen diesen Titel (Ullstein). Als man ihn einmal fragte, warum es solche Titanen der Kulturkritik wie ihn nicht mehr gebe, vielleicht nie mehr geben könne, antwortete er dem Nachruf zufolge: "Weil die jungen Menschen keinen Mut zum Pathos haben."
jhi/ka (dpa/epd)