1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KatastropheNahost

Beirut: Was wir wissen und was nicht

Uta Steinwehr mit Agenturen | Kersten Knipp
6. August 2020

Die Ursache für die massive Detonation in Beirut scheint klar, der Auslöser jedoch nicht. Viele Fragen sind noch offen. Die Regierung will offenbar schnell Antworten liefern.

https://p.dw.com/p/3gRHZ
Zwei junge Männer tragen zusammen Trümmerteile
Aufräumen im Viertel Mar Mikhael, das unmittelbar an das Hafengelände angrenztBild: AFP/P. Baz

Was ist passiert?

Am Dienstagabend gab es gegen 18 Uhr Ortszeit eine Explosion im Hafenbereich der libanesischen Hauptstadt Beirut. Darauf folgte ein Feuer, einige kleinere Explosionen und schließlich eine gewaltige Detonation, der eine massive Druckwelle folgte.

Nach jüngsten Regierungsangaben wurden mindestens 137 Menschen in der libanesischen Hauptstadt getötet und rund 5000 verletzt.

Ministerpräsident Hasan Diab sagte, 2750 Tonnen beschlagnahmtes Ammoniumnitrat seien explodiert. Das Material sei seit sechs Jahren ohne Vorsichtsmaßnahmen in einem Lagerhaus untergebracht gewesen. In einer kurzen Fernsehansprache an die Nation versprach Diab, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe "dafür bezahlen" würden. Den Auslöser für die Explosion nannte er auch an diesem Mittwoch nicht.

Wieso lagerte die Chemikalie im Hafen?

Es gibt Vermutungen, es handele sich dabei um die Ladung eines Schiffes, das sich im Herbst 2013 auf dem Weg von Georgien nach Mosambik befand. Zu den Umständen, warum die Ladung konfisziert wurde, gibt es jedoch unterschiedliche Angaben. Nach einer Sitzung des Kabinetts hat die Regierung am Mittwoch eine unbestimmte Anzahl Personen, die für den Hafen verantwortlich sind, unter Hausarrest gestellt, bis untersucht wurde, wieso die Chemikalie so lange gelagert wurde.

Am Donnerstag sagte Außenminister Charbel Wehbe dem französischen Radiosender Europe 1, die eingesetzte Untersuchungskommission habe "maximal vier Tage Zeit, einen detaillierten Bericht über die Verantwortlichkeiten vorzulegen".

Was nach bisherigem Stand klar scheint: Die Behörden wussten davon, dass das Ammoniumnitrat nicht sicher gelagert war. Behördenmitarbeiter sagten der Nachrichtenagentur AFP, die Lagerhalle sei in heruntergekommenem Zustand gewesen und hätte Risse in den Wänden gehabt. Sicherheitsbehörden hätten vergangenes Jahr eine Untersuchung durchgeführt, weil aus dem Gebäude üble Gerüche kamen. In ihrem Bericht heißt es, dass der Hangar "gefährliche Materialien enthält, die bewegt werden müssen".

Wie plausibel ist die offizielle Darstellung?

Einiges deute darauf hin, dass es sich tatsächlich um Ammoniumnitrat gehandelt habe, sagt der Chemiker und Explosivstoff-Spezialist Ernst-Christian Koch, Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Kaiserslautern, auf DW-Anfrage. So sei auf Internet-Videos neben der kugelförmigen Stoßwelle eine rotgefärbte Pilzwolke zu sehen. Dieses Rot sei "typisch für Ammoniumnitrat."

Mirko Himmel, Biochemiker am Carl-Friedrich von Weizäcker-Zentrum der Universität Hamburg, verweist auf die enorme Sprengwirkung von Ammoniumnitrat. Der DW sagte er, ein Unfall sei "sehr gut möglich, insbesondere, wenn die Substanz nicht sicher gelagert wurde".

Wofür wird Ammoniumnitrat gebraucht?

Ammoniumnitrat ist ein geruchsloses Salz, das in der Landwirtschaft und im Bau benötigt wird: zur Herstellung von Düngemittel und Sprengsätzen.

Symbolbild Ammoniumnitrat | ANC Sprengstoff
ANC-Sprengstoff: Ammoniumnitrat ist eins der Hauptbestandteile dieses explosiven GemischesBild: Getty Images/AFP/L. Robayo

Wie konnte es sich entzünden?

Wieso das Ammoniumnitrat explodierte, ist noch nicht klar. Norbert Gebbeken, emeritierter Professor für Bauingenieurwesen und Umwelttechnik sowie Präsident der Bayerischen Ingenieurkammer Bau, betont im DW-Gespräch: Zur Explosion von Ammoniumnitrat braucht es einen Auslöser. "Eine übliche Sommerhitze reicht dafür eigentlich nicht. Aber ein Feuer, ein Funke oder dergleichen kann eine solche Explosion auslösen."

Experten für Explosionen und explosive Stoffe analysierten für die Nachrichtenagentur AP Videoaufnahmen. Ihnen zufolge könnte es sich bei der ersten kleineren Detonation und dem Feuer um brennende Feuerwerkskörper handeln. AFP beruft sich auf Sicherheitskreise, wonach Reparaturarbeiten an der maroden Halle Auslöser gewesen sein könnten.

Normalerweise wird die Chemikalie unter strengen Bedingungen gelagert, das Salz darf nicht in die Nähe von Brennstoffen oder Wärmequellen gelangen. In vielen EU-Ländern muss Ammoniumnitrat zur Sicherheit mit Kalk gemischt werden. Die Substanz führte in den vergangenen Jahrzehnten bereits zu zahlreichen gefährlichen Explosionen - bei Industrieunfällen und Anschlägen.

"Unmittelbare Hilfe verlangt"

Könnte es ein Anschlag gewesen sein?

Von den libanesischen Behörden gibt es keine öffentlichen Hinweise dazu, dass die Explosion absichtlich herbeigeführt wurde. 

US-Präsident Donald Trump relativierte inzwischen seine ersten Äußerungen. Bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus sagte er nun, es könne sich um einen "Unfall" oder um einen "Angriff" gehandelt haben. Zum jetzigen Zeitpunkt wisse dies "niemand". Unter Berufung auf seine Generäle hatte er zuvor gesagt, es habe sich mutmaßlich um einen Anschlag mit einer "Art von Bombe" gehandelt.

Ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums und ein Mitglied des US-Geheimdienstes sagten AP, alles sehe danach aus, dass die Ursache der Katastrophe die falsche Lagerung explosiver Materialien sei. Sie wollten anonym bleiben, da sie nicht befugt seien, über Geheimdiensterkenntnisse öffentlich zu sprechen.

Nach Angaben eines Sprechers des Auswärtigen Amtes in Berlin scheint es sich "um ein schreckliches Unglück zu handeln". Die Bundesregierung habe dazu aber "keine eigenen Kenntnisse" und wolle sich "nicht an Spekulationen beteiligen".

Karte Beirut Explosion DE

Wie ist die Situation vor Ort?

Der Gouverneur Marwan Abboud sagte, zwischen 250.000 und 300.000 Menschen hätten durch die Zerstörung ihr Zuhause verloren. Laut Abboud hatte schon 2014 ein Sicherheitsbericht vor einer Explosion in Beirut gewarnt, da hochexplosives Material nicht korrekt gelagert würde.

Rettungskräfte suchen unter den Trümmern weiter nach Opfern. In der ersten Nacht beeinträchtigte ein Stromausfall in weiten Teilen der Stadt die Suche. Auch am zweiten Tag nach der Explosion werden nach Angaben des libanesischen Roten Kreuzes noch rund 100 Menschen vermisst. Mehrere Staaten haben Hilfe angeboten und schicken Ausrüstung, Experten und ausgebildete Hunde für die Suche nach Verschütteten.

Luftaufnahme des zerstörten Hafengeländes in Beirut
Das Ausmaß der Zerstörung zeigt sich im Hafengelände am Tag nach der ExplosionBild: Getty Images/AFP

Die ohnehin schon durch die Corona-Pandemie überlasteten Krankenhäuser der Stadt waren durch die Einlieferungen der zahlreichen Verletzten komplett überfordert. "Es ist eine Katastrophe im wahrsten Sinne des Wortes", sagte Gesundheitsminister Hamad Hassan.

Warum sind die Schäden so groß?

Berichten zufolge war die Detonationen im gesamten Land zu hören - und auch im 240 Kilometer entfernten Nikosia auf der Mittelmeerinsel Zypern. Nach Angaben von Seismologen entsprach das Ereignis einem Erdbeben der Stärke 3,3. Die Explosion verursachte eine massive Druckwelle. Gebäude in der Nähe stürzten ein, auch am neun Kilometer entfernten Flughafen barsten Scheiben. Im Hafen sank ein libanesisches Kreuzfahrtschiff, wobei zwei Crewmitglieder starben. Die Schockwelle soll die Wucht eines Tornados gehabt habe. Die Lagerhalle befand sich in der Nähe eines Einkaufs- und Vergnügungsviertels. Gouverneur Abboud geht inzwischen von Schäden in Höhe von 10 bis 15 Milliarden Euro aus, wenn die Verluste für Unternehmen infolge der Katastrophe eingerechnet werden.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika